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. . . und das Erbe

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Die Veränderungen, die nach Stalins Tod in der Organisation der Sowjetunion vorgenommen worden sind, löschen viel von dem aus, , was auf dem 19. Parteikongreß vier Monate z.uvor beschlossen wurde. Damals wurde die Inflation der höchsten Behörden eingeleiter. An die Spitze der Partei gelangte ein Zentralkomitee von 125 Mitgliedern und 110 Kandidaten. Das Präsidium dieses

Monsterausschusses, ein Wasserkopf als Oberhaupt, umfaßte 25 Mitglieder und 11 Kandidaten. In der Leitung der Staatsgeschäfte hatte sich diese Tendenz schon seit langem durchgesetzt. Mehrere Dutzend Ministerien verwalteten die atomisierten Ressorts. Ein drittes Prinzip war zu beobachten: die eigentlichen Machthaber bekleideten keine Fach-portefeuillcs, die politisch unbedeutenden Bürokraten oder Spezialisten überlassen wurden. Nun ist im Handumdrehen alles umgeworfen worden. Eine straffe Zentralisierung, eine politische Deflation greift Platz. Hauptkennzeichen der Maßnahmen, die vom Zentralkomitee der Partei, von Regierung und Präsidium des Obersten Sowjets in einer Proklamation verkündet wurden, sind die Verminderung der Zahl der Präsidiumsmitglieder der Partei auf zehn, in denen wir die wahren Stiatslenker zu sehen haben; die Personalunion zwischen den höchsten Aemtcrn in der Partei und im Staate; demgemäß die Uebernahme auch der äußeren Verantwortung für die wichtigsten Ressorts durch die eigentlichen Inhaber der Gewalt; endlich die Zusammenlegung der zersplitterten Ministerien zu größeren obersten Verwaltungseinheiten. So wurden z. B. sechs Ministerien, die je einen Industriezweig betreuten, in ein einziges zusammengefaßt: Außenhandel und Binnenhandel bilden fortan e i n Ressort; das Ministerium für Inneres wird mit dem für Sicherheit vereint. Von Wichtigkeit aber sind die Personalfragen.

Jurij Maks.imiljanowitsch M a 1 e n k o w hat als Ministerpräsident und als Vorsitzender des Parteipräsidiums, wie als Leiter des Parteisekretariats allenthalben die Nachfolge Stalins übernommen. In ihm besitzt die UdSSR ihren neuen Gebieter. Der Einundfünfzigjährige, wohlbeleibt, ein harter und zäher Willensmensch, der nie längere Zeit außerhalb der Sowjetuniors geweilt hat, Sproß einer bürgerlichen Beamtenfamilie, Techniker von Beruf, asketisch und bedürfnislos, ein Organisator von ungewöhnlichen Qualitäten, ehemaliger Sekretär und Vertrauter Stalins, im letzten Krieg Mitglied des Fünferausschusses, der die Verteidigung leitete, hat als deren langjähriger Leiter die Parteimaschine fest in der Hand. Im Gegensatz zu Shdanow, der vor ihm zum Nachfolger Stalins auserkoren war, ist er Realpolitiker, den doktrinäre Skrupel und gelehrte literarische Sorgen wenig plagen; dem es vor allem darum gehen wird, die Industrie und die Landwirtschaft der UdSSR weiterzuentwickeln, die Wehrkraft der Sowjetunion zu hegen und zu pflegen, die internationale Machtposition seines Weltreichs zu festigen. Des weiteren wird er sich im Inneren gegen jeden Versuch mit eiserner Strenge wenden, der, sei es das Regime als Ganzes, sei es die persönliche Stellung Malen-kows oder die seiner engsten Freunde erschüttern wollte.

Neben Malenkow sind vier „Erste Stellvertreter des Ministerpräsidenten“ zugleich Mitglieder des Parteipräsidiums der Kommunisten: der vierundfünfzigjährige Georgier Lawrentij Pawlowitsch Bert ja, der dreiundsechzigjährige Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow, der sechzigjährige Lazar M. Kagano-witsch und der achtundsechzigjährige N i k o 1 a j M. Bulganin. Durch seinen Freund Berija, der das vereinigte Ministerium des Inneren und der Staatssicherheit leiten wird, und durch den Verteidigungsminister Marschall Bulganin, dem Heer, Flotte und Luftwaffe unterstehen, hat Malenkow den gesamten bewaffneten Apparat der UdSSR zur Verfügung. Molotow, der von der ihm vielfach ' 'tens des Auslands zugesprochenen Nachfolge Stalins als Ministerpräsident ausgeschlossen blieb, wird auf sein eigentliches Gebiet, die Außenpolitik, beschränkt. Kaga-nowitsch, der seine Erhebung der dreifachen Eigenschaft als Schwager Stalins, als führender „alter Bolschewik“ und als Paradejude dankt, ist dem Verkehrswesen vorgesetzt.

Molotow ist international zu bekannt, als daß wir über ihn viel berichten müßten. Berija, mit Stalin entfernt verwandt, seines Zeichens Baumeister, hat sich als Leiter der Staatspolizei, des Innenministeriums und dann der sowjetischen Atomproduktion gleichermaßen bewährt und sich den, für seine Funktionen schmeichelhaften, Ruf erworben, bedenkenlos über Leichen zu gehen, doch Stalin und dem Regime grenzenlos ergeben zu sein. Im Typus ein Intellektueller, dem Wesen nach ein geschmeidiger Orientale, ist dieser Mann, dem seit vielen Jahren innere Verwaltung und Polizei unterstehen, wenn er auch beide Ressorts durch beinahe ein Lustrum auf dem Umweg über Platzhalter verwaltete, der wertvollste Verbündete Malenkows, dem er sonst der einzige gefährliche Gegner hätte sein können. (Molotow ist dafür zu alt und er hat nicht die Kader der Geheimpolizei hinter sich wie Berija; zudem ist er mit einer Gattin belastet, die als Jüdin, als Modedame und wegen ihrer allzu westlichen Luxusneigungen das Aergernis der heutigen Parteigewaltigen erregt.) Bulganin, aus der guten Vorkriegsgesellschaft stammend, ein stattlicher echter Russe, spitzbärtig und im Aeußeren eher ein Professor als ein Heerführer, hat dennoch große strategische Fähigkeiten und als Mitglied des vorerwähnten Fünferkomitees im zweiten Weltkrieg an Malenkows Seite unter Stalin gewirkt. Er und der greise Kampfgefährte, der einzige wirkliche Herzensfreund Stalins, Marschall Woro-schilow, der als Staatsoberhaupt an die Stelle Schwerniks gelangt, verbürgen Malenkow die Gefolgschaft der Wehrmacht, Neben Bulganin, der auch formell das Ressort leiten wird, sind zu Stellvertretern der bisherige Minister Marschall Wassilewskij und der gefeierte Feldherr Shukow ernannt worden.

Außer Malenkow, Berija, Molotow;, Kaga-nowitsch, Bulganin und Woroschilow sitzen noch im neuen Parteipräsidium der achtund-fünfzigjährige Armenier A. I. Mikojan, dem die gesamten Handelsangelegenheiten unterordnet sind; der zweiundsechzig jährige N. S. Chruschtschow, vordem Ministerpräsident der zweitgrößten Bundesrepublik, der Ukraine, der sich vornehmlich mit der Partei beschäftigen dürfte (er hat auf dem 19. Kongreß das Referat über die Umorganisation erstattet), dann die beiden überragenden Wirtschaftsführer, der erst neunundvierzig-jährige M. G. Pierwuchin und M. S. Saburow, dessen Altersgenosse. Pierwuchin, Sohn eines Schmieds aus dem Ural, Chemiker und sei« 1946 Minister der chemischen Industrie, ist, obzwar schon einer des Dutzends der stellvertretenden Ministerpräsidenten, erst am Revolutionsfeiertag 1952 ins vorderste Blickfeld geraten, als er vor Stalin die nur den vordersten Parteikapazitäten vorbehaltene

Festrede hielt. Saburow, seit 1949 Vorsitzender der Plankommission, wurde durch sein Referat auf dem Parteikongreß im vorigen Oktober herausgestellt.

Als Gesamteindruck der sachlichen und personellen Veränderungen, die, offenbar von langer Hand und sorgsam vorbereitet, nach Stalins Tod mit eindrucksamer Schnelle geschehen sind, ist klar zu erkennen, daß die Männer im Kreml sich für alle Eventualitäten rüsten wollen: für eine Auseinandersetzung mit der westlichen Welt, wobei man — nach den Worten Malenkows — sogar an eine „Zusammenarbeit der zwei gegensätzlichen Systeme, des Kapitalismus und des Sozialismus“, denkt, ganz so, wie es einst Stalin gesagt hat. Ein Lichtblick? Vielleicht. Man kann noch nicht urteilen. Es gilt jetzt, in Geduld und Ruhe auf die Handlungen zu warten, die bald den Worten folgen müssen.

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