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Der Hammer wurde zum Amboß

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Der Abgang von Wjatscheslaw Molotow und Lazar Kaganowitsch aus der aktiven sowjetischen Politik kommt nicht unerwartet. Schon seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, erwartete man, daß die beiden nach Woroschilow ältesten Mitglieder der sowjetischen Parteileitung aus der aktiven Politik ausscheiden. Es hieß immer, daß insbesondere Molotow nur darum noch aktiv blieb, weil sein Name und die damit verbundene Autorität in den Parteimassen nach dem Tode Stalins noch notwendig war. Er ist nun einer der letzten Mohikaner, der bereits in der zaristischen Zeit in der illegalen Partei tätig war. Bereits 1912 amtete er als Redaktionssekretär an der damals in St. Petersburg erscheinenden „Prawda“. Er, Kaganowitsch und Woroschilow sollten die lebendige Kontinuität des Sowjetstaates und der sowjetischen Kommunistischen Partei garantieren.

Schon seit längerer Zeit war jedoch bekannt, daß Molotow der „Führer“ einer konservativen Opposition im Parteipräsidium war. Konservativ natürlich in sowjetischer Sicht, dies in dem Sinne, daß diese Gruppe sich eng an die Traditionen der Revolution hielt und jede „Auflockerung" als Gefahr für den Sowjetstaat ablehnte. Verstehen kann man das nur, wenn man die beteiligten Personen näher betrachtet. — Jeder, der Wjatscheslaw Molotow einmal kennenlernte, mußte sich bestimmt die Frage stellen: Wie kam es, daß gerade dieser Mann Mitglied einer Partei wurde, die nur' aus Berufsrevolutionären bestand? Zeit seines Lebens fehlte Molotow jeder Funke eines revolutionären Temperamentes. Wenn der damalige Ministerpräsident bei einem diplomatischen Empfang mit stets ernster, unbewegter Miene seine Gäste begrüßte, so machte er immer den Eindruck des personifizierten russischen Kleinbürgers. Der Zeitgeist brachte den damaligen Studenten der Technik im vorrevolutionären Rußland in eine revolutionäre Partei, und es entsprach ganz seinem Charakter, daß er nicht die temperamentvollen, abenteuerlichen und bombenwerfenden Sozialrevolutionäre wählte, sondern die orthodox-marxistische Bolschewikipartei. In dieser Partei war er stets in bürokratischen Funktionen zu finden. Als pedantischer und strenger Redaktionssekretär erwarb sich der junge Student schon frühzeitig im Kreise seiner Parteigenossen den Spitznamen „Steinerner Hammer“. Mehr als 10 Jahre als Chef der Sowjetregierung unter Stalin und mehr als ein Jahrzehnt Außenminister gaben Molotow schließlich sein geistiges Profil. Im Grunde genommen unterscheidet er sich in nichts mehr von einem zaristischen Minister.

Eine bestimmte Geschichtsschreibung zeichnet beinahe alle kaiserlich russischen Staatsmänner als beschränkt, reaktionär, und manche von ihnen als brutal, ja sogar blutgierig. Diese Schilderungen sind nicht richtig. Viele von ihnen waren kluge Männer, aufgeklärt, die sich bewußt waren, daß Rußland weitgehende Reformen nötig habe. Zar Nikolaus I. gilt als einer der reaktionärsten Herrscher Rußlands. Und doch war sich auch dieser Kaiser durchaus bewußt, daß Rußland Reformen brauchte, vor allem die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft. Trotzdem rührte er nichts an. Denn jeder russische Herrscher, jeder russische Staatsmann glaubte, daß die kleinste Lockerung, das geringste Nachlassen der Zügel durch die Regierung zum Bruch der Dämme, zum Chaos und damit zum Untergang Rußlands führen würde. Jeder verschob die notwendigen Reformen auf später, womöglich auf eine Zeit, wenn er nicht mehr dabei sein würde.

Molotow ist von Natur kein Diktator. Er hat jedoch Angst, daß jede tiefere Veränderung zum Untergang des Sowjetsystems und damit Rußlands führen müsse. Alles, was in den letzten Jahren geschah, die Eindämmung der Polizeimacht, die Reform des Strafvollzuges, der Versuch, im Sowjetstaat für den einzelnen Rechtssicherheit zu schaffen, die Erweiterung der Autonomie der Kolchosen, die jetzige Industriereform, welche den einzelnen Republiken und auch den einzelnen Betrieben größere Selbständigkeit gewährt, die Versuche, auf geistigem und künstlerischem Gebiet größere Freiheiten einzuräumen, das alles ist für Molotow der Weg zum Untergang. Gar nicht zu reden von der Außenpolitik nach Stalins Tod. Wie unzählige seiner Vorgänger in der Geschichte Rußlands, ist Molotow fest davon überzeugt, daß die übrige Welt nur darauf wartet, das heilige Mütterchen Rußland zu überfallen und in Stücke zu reißen; dies um so mehr bei einem kommunistischen Rußland. Der neue Stil der sowjetischen Außenpolitik ist für ihn schon beinahe Verrat und Sakrileg! Die Fälle, in denen russische Regierungschefs ins Ausland reisten, kann man im Laufe der Jahrhunderte an den Fingern abzählen. Und ein kommunistischer Regierungschef, der gelegentlich einen „bourgeoisen“ Ausländer begrüßen muß, soll solche Kontakte auf das Notwendigste beschränken. Ein Parteisekretär jedoch, der gar Königinnen Besuche macht, Gast ausländischer Botschaften ist, der ist für ihn ganz undenkbar. Weder Lenin noch Stalin haben solches je getan.

Es gab kaiserliche russische Minister, die keine große Meinung von ihrem Herrscher hatten, ja einzelne von ihnen direkt verachteten. Trotzdem verteidigten sie zäh den Absolutismus. Sie waren eben auch davon überzeugt, daß ohne absoluten Herrscher Rußland dem Untergang geweiht wäre. — Stalin hat seinen .treuen Diener Molotow jahrzehntelang schlecht behandelt. In den letzten Jahren seines Lebens hat er aus krankhaftem Antisemitismus Molotow beschimpft und erniedrigt, seine Frau (Molotows Frau ist Jüdin) sogar öffentlich ge- demütigt und gemaßregelt. Molotow hat also bestimmt keinen Grund, Stalin nachzutrauern; doch kann er sich eben Rußland ohne eine „starke Hand“ nicht verstellen.

Lazar Kaganowitsch, der Sohn eines kleinen jüdischen Bahnbeamten aus der tiefsten ukrainischen Provinz, hat im Laufe dep mehr als drei Jahrzehnte, in denen er Eisenbahnen,

verlotterte Industrien, die Wirtschaft ganzer Gebiete in Ordnung brachte, eine ähnliche Mentalität wie Molotow angenommen. Seine Erfahrung war die, daß man nur mit Strenge, mit militärischer Befehlsgewalt die Probleme zu meistern vermöge. Dabei ist Kaganowitsch ein schlauer und sogar elastischer Mensch. Er verstand es trotzdem, bei der technischen Intelligenz Rußlands sehr populär zu werden. Das bestärkte seinen sowjetisch-konservativen Sinn. Zum Schluß sah er aber nur die technische Ministerialbürokratie und merkte gar nicht, daß die Ingenieure in den Betrieben gegen sie kämpften.

Daß sich zu diesen beiden Malenkow und S c h e p i 1 o w gesellten, ist nicht allein auf persönliche Ressentiments zurückzuführen. — Man darf nicht vergessen, daß beide, Malenkow und Schepilow, Kosaken sind. Der eine stammt aus Orenburg, der andere vom Don. Kosaken sind in ihrer Grundtendenz immer Nationalisten. Einst war dieser Nationalismus für die Kosaken in der Religion, in der Pravoslawie, repräsentiert. Sie verteidigten den „rechten Glauben" gegen Mohammedaner und „Papisten“. Lind der Zar war das lebende Symbol dieses Glaubens.

Heute ist es die reine, überlieferte kommunistische Religion. Bestimmt ist beiden weder die Eindämmung des russischen Nationalismus im Innern noch die heutige sowjetische Außenpolitik nach ihrem Wunsche.

Trotz allem ist es falsch, das, was in Moskau vorgeht, als Machtkampf zu bezeichnen. Dies deshalb, weil Molotow gar nicht nach der Macht strebte. Er will nur im zweiten Glied stehen. Im Grunde genommen ist er ein alter Mann, der nicht über seinen eigenen Schatten springen will und kann. Molotow wollte nicht selber Diktator sein, er wollte aber einen Diktator haben. Wäre Chruschtschow diese Rolle zu spielen bereit, so hätte ihm Molotow genau so ergeben wie Stalin gedient. Lazar Kaganowitsch weiß wohl zu gut, daß er als Jude keine Chance hat, unter den heutigen Verhältnissen an der Spitze Rußlands zu stehen. Und die beiden andern sind viel zu „jung“.

Wie falsch solche Dinge beurteilt werden, zeigt die Tatsache, daß beinahe einhellig von der ganzen Weltpresse Dimitrij Schepilow als der Mann Chruschtschows bezeichnet wurde. Als Schepilow Außenminister wurde, wertete man das als einen Erfolg des Parteisekretärs. Als

Schepilow dieses Amt jedoch wieder abtrat, da wurde das als Machtzuwachs Molotows ausgelegt. Und jetzt stellt sich heraus, daß Schepilow ein Anhänger und kein Gegner Molotows ist!

Was ist nun wirklich in Moskau geschehen? Man wird guttun, sich die Vorgänge im Kreml nicht immer düster-grandios vorzustellen. Nur das Ende ist beinahe stets dramatisch. Man muß sich die wirklichen Verhältnisse an der russischen Spitze eher kleinbürgerlich vorstellen. Seit Stalins Tod stemmten sich Molotow und Kaganowitsch gegen die neue politische Richtung der Partei. Dies geschah dadurch, daß sie gegen die von den anderen Mitgliedern des Parteipräsidiums vorgebrachten Vorschläge meist unzählige Bedenken äußerten. Immer öfter kamen sie dabei in die Minderheit. Bis zu jenem historischen 20. Parteikongreß, als Chruschtschow im Auftrage der Mehrheit die Sprengung aller Kanäle, die zu einer personellen Diktatur führen könnten, durch eine massive Kritik Stalins durchführte. Wohlgemerkt, kritisiert wurden die Uebergriffe und Fehler der Personaldiktatur und nicht die stalinistische Politik in der Vergangenheit. Der Weg einer neuen Entwicklung sollte freigelegt werden. Seitdem besteht eine neue Generallinie der Partei. Beinahe in jeder Sitzung sprachen aber trotzdem Molotow und Kaganowitsch gegen jede geplante Maßnahme der neuen Politik. Das war bereits statutenwidrig. Denn nach altem kommunistischem Brauch kann man seine Meinung frei vertreten, solange kein Beschluß gefaßt ist. Ist es jedoch einmal zum Beschluß gekommen, dann hat sich die Minderheit der Mehrheit bedingungslos zu unterwerfen und den Beschluß loyal durchzuführen. Die Versuche, die neue Politik zu bremsen, war also an und für sich schon eigentlich eine Todsünde gegen das Parteistatut. Daß sich die beiden Freunde wie eh und je öfter trafen und auch Malenkow und Schepilow beizogen, wurde ihnen übel ausgelegt. Als dann die beiden letzteren immer öfter mit den „Alten" stimmten, sprach man bereits von einer oppositionellen Fraktion. Da mußte die Partei zuschlagen.

Es wäre jedoch eine primitive Vereinfachung, wollte man die jetzt politisch“ Erledigten als Eigenpersönlichkeiten werten. In Wirklichkeit sind sie Vertreter einer bestimmten Schicht innerhalb der Sowjetunion. Schon die Diffamierung Stalins stieß auf Widerstand. Denn Stalin gilt heute noch bei den Durchschnittsrussen als Nationalheld. Männer jedoch wie Molotow und Kaganowitsch gibt es viele in Rußland. Die neue politische Linie der Partei geht ja gegen die Interessen vieler. Man denke nur an die in ihren Vollmachten beschränkten oder abgebauten Polizisten, an die tausenden und abertausenden Beamten in der Landwirtschaft und Industrie, die sich jetzt an ein ganz neues Leben anpassen müssen und die ihre bisherigen Privilegien verlieren. Selbst unter den Künstlern und Schriftstellern gibt es viele, die gegen eine Liberalisierung der Kulturpolitik sind, weil sie glauben, daß dann ein viel schärferer Konkurrenzkampf eintreten wird, der ihrem bisherigen bequemen, satten und beamtenähnlichen Leben ein Ende setzt. Die Molotow-Fraktion im Parteipräsidium war eben der Exponent einer werdenden konservativen Strömung, die zur Partei werden könnte und den fortschreitenden Umbau des Sowjetstaates gefährdete.

Genau so wie Molotow und Kaganowitsch in den bereits durchgeführten oder geplanten Re formen den Untergang Rußlands sehen, genau so sehen Chruschtschow, Bulganin und ihre Anhänger in einer konservativen Beibehaltung des Alten eine unausweichliche Katastrophe. Für sie ist die Diktatur nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Je nach Bedarf muß diese Diktatur Aussehen und Inhalt ändern. Jetzt, nachdem das ganze Volk der Sowjetunion nur „aus Werktätigen“ besteht, muß diese Diktatur elastischer, lockerer und äußerlich gefälliger werden. Ziel der Reformen ist eine Diktatur der „weichen Hand“, die ansprechender wirkt, die aber auch alle wirtschaftlichen Energien fördert, die Produktivität hemmungslos entwickelt und schließlich den „Weltkapitalismus" auf wirtschaftlichem Gebiet überflügelt.

Wie immer ist die Außenpolitik und die Politik gegenüber dem Weltkommunismus eine Funktion der sowjetischen Innenpolitik. Diese fordert Frieden, daher die Koexistenzparclen. Diese Koexistenz ist jedoch nur erreichbar, wenn statt eines straff von Moskau aus geleiteten Ostblockes zum elastischen System gleichberechtigter Bundesgenossen übergegangen wird. Daher die Parole des eigenen Weges zum Sozialismus in jedem einzelnen Lande und daher die .größere Autonomie der nichtrussischen Parteien.

Auf jeden Fall zeigen die Ereignisse in Moskau, daß der Sowjetstaat in vollem Umbau begriffen ist. Noch ein paar Jahre und wir stehen, wie so oft in den letzten 40 Jahren, einem scheinbar ganz neuen Rußland gegenüber, das doch in seinem Wesen das alte bleibt. Die westliche Welt wird daher gut daran tun, die russische Entwicklung ohne Wunschträume in dieser oder jener Richtung zu verfolgen.

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