Kosakenattacke auf den Supergötzen
Schwer belastet von inneren Schwierigkeiten (zunehmende Versorgungskrise, wirtschaftlicher Immobilismus, wachsende Gegensätze zwischen den Nationalitäten usw.) sowie außenpolitischen Problemen (Afghanistan, Polen etc.), beginnt am 23. Februar der 26. Parteikongreß der KPdSU. Im Gegensatz zum 20. Parteitag vor 25 Jahren wird sich bei diesem kommenden Kongreß wohl nicht allzuviel Sensationelles abspielen: Damals war Chruschtschows Abrechnung mit Stalin erfolgt und damit die sogenannte Entstalinisierung eingeleitet worden.
Schwer belastet von inneren Schwierigkeiten (zunehmende Versorgungskrise, wirtschaftlicher Immobilismus, wachsende Gegensätze zwischen den Nationalitäten usw.) sowie außenpolitischen Problemen (Afghanistan, Polen etc.), beginnt am 23. Februar der 26. Parteikongreß der KPdSU. Im Gegensatz zum 20. Parteitag vor 25 Jahren wird sich bei diesem kommenden Kongreß wohl nicht allzuviel Sensationelles abspielen: Damals war Chruschtschows Abrechnung mit Stalin erfolgt und damit die sogenannte Entstalinisierung eingeleitet worden.
Das Aufbegehren der Polen hat Edward Gierek und seine Mannschaft im Sommer 1980 um Amt und Ansehen gebracht - jene Männer, die 1970 den gescheiterten Gomulka abgelöst hatten. Gomulka war 1956 gegen den Widerstand Moskaus an die Macht gelangt, im Zuge des polnischen und ungarischen „Frühlings“ im Herbst, dem das „Tauwetter“ in Moskau nach Stalins Tod (1953) und die Entthronung des Despoten auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 durch Chruschtschow als auslösende Anstöße vorausgegangen waren.
Zwischen der Verkündung des „neuen Kurses“ durch Stalins Erben und ihren fortdauernden Machtkämpfen und dem ersten Debakel, der Erneuerung des Ostblocksystems von oben, der gewaltsamen Niederschlagung der ungarischen Volkserhebung vor aller Welt, lag der Versuch des
Kremls, durch die Aussöhnung mit Tito die virulente Unrast im ostmittel- und mitteleuropäischen Vorfeld der Sowjetunion zu dämpfen.
Mit der Rückholung des widerspenstigen Partisanen-Marschalls sollte das imperial-„sozialistische“ Lager konsolidiert, Stalins verfehlte Politik gegenüber dem Satellitengürtel in positive Integration umgewandelt und die Lage zwischen der Elbe und den strittigen Grenzen zum unheimlichen China, zwischen dem erstarkenden atlantischen Bündnis und dem belastenden Korea- Abenteuer, beruhigt werden. Das ist 1981 ein Vierteljahrhundert her.
Solche Zahlen sind nicht äußerlich, denn nicht anders, als die Voraussetzungen für das Geschehen der fünfziger Jahre auf den Konferenzen der Kriegsgegner Hitlers in Teheran, Jalta und Potsdam (1944/45) geschaffen worden sind, wirken die Ereignisse jener Jahre, Stalins Tod und die Erschütterungen seiner Megalo-Despotie, immer noch direkt in unsere unmittelbare Gegenwart herein.
Am 23. Februar 1981 werden die altersgrauen Verwalter des roten Zarismus den 26. Kongreß der KPdSU eröffnen. Unter Breschnjew sind die Parteitage mit „geschäftsmäßigem“
Charakter, als Demonstrationen stabiler Macht und kontinuierlichen Erfolgs abgewickelt worden.
Chruschtschow hatte die Parteitage zu Arenen des Machtkampfes gemacht. Es gab Zunder und dramatische Auftritte wie seither nicht wieder.
Vor bald zwanzig Jahren, im Herbst 1961, ließ Chruschtschow nach dem 22. Parteitag Stalins Leichnam aus dem Lenin-Mausoleum entfernen. Auf diesem Kongreß hat sich die KPdSU nach 1903 und 1919 ihr drittes Programm gegeben - eine Kalamität seit zwei Jahrzehnten, denn Chruschtschows Versprechungen, die gerade in unseren Tagen voll in Erfüllung gehen sollten.
sind angesichts der realen wirtschaftlichen und sozialen Situation im sogenannten Realsozialismus nichts als ein voluminöser Katalog von Niederlagen.
Überraschender Höhepunkt des 20. Parteitags der KPdSU war Chruschtschows alsbald nicht mehr geheime Geheimabrechnung mit dem toten Diktator. Durch diesen gewagtesten und sogleich heftigsten Anstoß zur jahrelang schwankenden „Entstalinisierung“ ist
der Kongreß vom 14. bis 25. Februar 1956 zum Parteitag Chruschtschows geworden. Sein späteres politisches Schicksal bis zu seinem Sturz im Herbst 1964, mit dem Scheitern sowohl gegenüber J. F. Kennedy in der Kubakrise wie gegenüber Pekings wachsender Rivalität, war von daher geprägt.
Chruschtschows Nachfolger haben die Wellen der Verstörung, die seither die kommunistisch beherrschten Län
der und die kommunistischen Parteien der übrigen Welt erschütterten, nicht ungeschehen machen können. Bresch- njews mühevolles Vorrücken in den letzten Jahren in die Position des Kollektiv-Bosses im Kreml sieht sich wie die innersowjetische Entsprechung der Malaise der kommunistischen Weltbewegung an.
Der militaristisch-reaktionäre Charakter des heutigen Sowjetregimes hat längst schon Zweifel am Fortwirken der „Entstalinisierung“ aufkommen lassen:
Ist nicht Chruschtschow abgetan, 'vergessen, Stalin ein Jahrzehnt lang schon wieder halb-heimlich offiziell aufgewertet? Werden die Vereinbarungen des Helsinki-Abkommens von 1975 nicht täglich mißachtet? Wird die „Entspannung“ von der Sowjetunion etwa nicht mißbraucht? Haben denn die angeblich autonomen oder gar die sowjetfeindlichen kommunistischen Regime und Parteien ihren eigenen totalitären Charakter abgestreift?
Um die ältere nichtkommunistische Linke im Westen, die allein schon durch die-der Sache nach immer noch apologetische und gebremste - „Entstalinisierung“ aufgewühlt war und erst recht auf einen Humansozialismus und Reformkommunismus setzte, ist es still geworden. Der Nachwuchs-um es höflich zu sagen - weiß nicht viel vom Nachkriegsgeschehen und seiner Allgegenwärtigkeit.
Wäre etwa heute noch zu bedenken, mit Abscheu zu vergelten, daß Chruschtschow Stalins Wüten unter den loyalen Parteikadern beklagte; jedoch keiner die Millionen unschuldiger parteiloser Menschen „rehabilitierte“ und ihnen sowie ihren Angehörigen keinerlei Genugtuung und Entschädigung zuteil wurde?Chruschtschows Kosakenattacke auf den Supergötzen und die Impulse seiner abenteuerlichen Systemerneuerung wären demnach vergeblich gewesen und zu Recht vergessen?
Nicht in die guten Tage unter den robusten Hanswürsten im Kreml wünschen sich heute etwelche in der Sowjetunion zurück, sondern in die Zeit von Zucht und Ordnung unter Stalins Fuchtel. Wie soll ein junger Mensch, ein Außenstehender, heute solche Umschwünge verstehen?
Um anscheinend so Mißglücktes und Vergebliches dennoch angemessen bewerten zu können, ist der Blick nicht nur auf das jüngste Vierteljahrhundert zu richten; es ist auch die Vorgeschichte des 20. Parteitags zu vergegenwärtigen.
Der 19. Kongreß fand vom 5. bis 14. Oktober 1952 statt, nach dreizehn Jahren autokratischer Herrschaft ohne Parteitage, mit nur einer Parteikonferenz (1941) und zwei Plenarsitzungen des Zentralkomitees (1941 und 1946).
Stalin war fast 73 Jahre alt, ein einsamer, verhärteter, krankhaft mißtrauischer Wolf mit erschlaffenden Kräften. Er herrschte mit Furcht und Schrecken. Die Behexungsrituale der „Titoisten“- Prozesse färbten die sowjetisierten Satelliten mit Blut.
In der Sowjetunion fochten seine Top-Kreaturen ihre mörderischen Überlebenskämpfe durch. Er bereitete vor, und er benützte dazu auch den ihm abgenötigten Parteitag, was ihm post mortem auf dem 20. Parteitag widerfahren sollte: die große „Säuberung“.
Die Verdächtigungen, die Verhaftun
gen, die Droh- und Angstkampagnen waren schon angelaufen. Den Kongreß verließ Stalin mit überdimensionierten Führungsgremien - die alte Garde saß mit einem Mal unter ihren Erben und Nachfolgern.
Im Jänner 1953 begann die Vernichtungsmaschine zuzupacken. Wie schon in den dreißiger Jahren sollte auch jetzt die Welt wiederum getäuscht werden, der Fleischwolf rechtens töten - zum Schutz und Wohlergehen von Volk, Partei und Staat. Offen wollte sich die blutige Despotie nicht zeigen. Nicht alle überlebten die angelaufene Intrige, die ersten Folterungen. Da traf der Tod den Diktator.
Was sein Fortleben über den Tod hinaus hätte festigen sollen, was ihm seine Helfer und Häscher vom Hals hätten schaffen sollen, kam zum Stillstand. Der letzte Coup des Meisterverschwörers aus Georgien war mißlungen. Die Überlebenden, die potentiellen
Opfer, richteten Intrige und Waffen gegeneinander.
Denn Berija, derjenige, der Stalins polizeiliche Allmacht verwaltete, hatte jetzt die Apparate des Despotismus - gegen Partei und Armee - in der Hand. Erst als er und seine Oberbüttel beseitigt waren, hatten die anderen Helfershelfer Stalins überlebt, konnten sie ihre Rivalitäten fortan „administrativ“, ohne physische Vernichtung, austragen, vermochte es Chruschtschow, sich auf ein immer schwankendes Oben zu boxen.
Die Abschüttelung der Verbrechen,
die scheinmoralische Befreiung von einem Vierteljahrhundert Willkürherrschaft und Terror (verbrämt als „Personenkult“) waren freilich kein Schritt wirklicher Loslösung, Reinigung und Läuterung, sondern bloß Stich und Hieb im Nachfolgekampf, drei Jahre nach der Einbalsamierung von „Lenins treuestem Schüler“.
Der russisch-rote Totalitarismus wurde auf die Irrtümer, Fehler und Verbrechen eines Mannes reduziert; Lenin, selber sakrosankt, durfte als Kronzeuge gegen den mißratenen Erben dienen und nun wieder den verwaisten Thron, jetzt eines allwissenden Vaters der Völker und „wissenschaftlichen“ Orakels, einnehmen.
Man mag einwenden, daß Chruschtschows Teilwahrheiten und seine Manipulation der negativen Offenbarung von Stalins Herrschaft im Zuge des Machtkampfes unter allen Kommunisten Schaden genug gestiftet und der freien Welt damit reichlich nützlich gewesen seien. Allein schon seine unzulängliche, schiefe „Entstalinisierung“ habe auch ihm bis zuletzt zu schaffen gemacht, auf die Sowjetunion als Bumerang gewirkt und letztlich über seine innen- und außenpolitischen Verstrickungen zu seinem eigenen Sturz beigetragen.
Die „dialektisch“ gewonnene Bilanz wäre demnach für die nichtkommunistische Welt so schlecht nicht? Wie die autobiographischen Fragmente und Reflexionen des Pensionärs Chruschtschow zeigen, hat ihn diese Frage bis zu seinem Tod vor bald zehn Jahren nicht losgelassen.
Chruschtschow hat nach seiner Entmachtung allmählich in vielem erstaunlich umgedacht (am wenigsten ist seinen fact-stories zu glauben). Nur: Vor der Schwelle der Macht wird oft und gern auch anders gedacht und gesprochen, als dahinter gehandelt wird, zu handeln ist. Von Chruschtschows späten Erkenntnissen und Einsichten sind die heutigen Sowjetmachthaber so weit
entfernt wie eh und je. Das ist weder mit Unzulänglichkeit noch mit bösem Willen zu erklären.
Es exponiert nach wie vor das Existenzproblem des Systems seit seiner Schaffung. Das System ist im wesentlichen unverändert und jede Hoffnung auf seine Demokratisierung oder Liberalisierung vergeblich. Es an seiner Wurzel, am Totalitätsanspruch über die Menschen, zu fassen und diesen Anspruch aufzulösen, heißt es zu zerstören, den Bann zu brechen. Das hat Chruschtschow vor fünfundzwanzig Jahren nicht gewollt, und das vermag keiner der neostalinistisch-altzaristischen Gewaltbürokraten, die seinerzeit über das Scheitern seiner Befreiungsexperimente triumphierten.
Der 20. Parteitag 1956 ist als revolutionärer Akt verstanden worden. Delegierte, von denen man annehmen möchte, sie hätten geahnt oder gewußt, fielen, unvorbereitet mit den Enthüllungen von Stalins Verbrechen konfrontiert, in Ohnmacht. Chruschtschows „Geheimrede“ hat ihre eigene Dynamik entfaltet. Nicht weibliche Neugier, wie in der griechischen Sage, sondern der Machtkampf öffnete diese Büchse des Verderbens.
Daß die Erneuerung vom Februar 1956 der Beginn einer „Renaissance“, einer neuen Revolution sei, war damals die Hoffnung der Unbelehrbaren. Sie meinen heute noch, daß sie unvollendet sei.