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Ein Gespenst, das nicht sterben kann ?

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Der Tod des italienischen KP-Führers Enrico Berlin-guers hat über die Medien ein Schlagwort, ein obskures Phänomen der siebziger Jahre wieder in Erinnerung gebracht: den „Eu-ro"-Kommunismus.

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Der Tod des italienischen KP-Führers Enrico Berlin-guers hat über die Medien ein Schlagwort, ein obskures Phänomen der siebziger Jahre wieder in Erinnerung gebracht: den „Eu-ro"-Kommunismus.

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Was war mit der Zaubervokabel, mit dem Mischding gemeint, was war da dran, wenn etwas dran war? Da das Schlagwort nun schon wieder Jahre hindurch aus den Medien fast ganz verschwunden war, ist für Jüngere vielleicht kurz zu rekapitulieren:

Das Beuteverhalten Stalins nicht nur gegenüber dem besiegten Hitler-Reich, sondern auch im ostmitteleuropäischen Staatengürtel, der Nachkriegsschock des Koreakrieges, die offiziellen Enthüllungen über das Stalin-Regime 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU haben wie die Niederschlagungen der Volkserhebungen jener Jahre und die Nieder-walzung des Prager Frühlings 1968 das Ansehen der östlichen Siegermacht Stoß um Stoß immer nachhaltiger erschüttert.

Schon hatte der Bruch zwischen Moskau und Peking das Phantom der unbezwinglichen Ubermacht eines gigantischen roten Monolithen zerstieben lassen. Die permanente Selbstdiskreditierung des Sowjetsystems ließ die Kommunisten außerhalb des Kremlimperiums nicht unberührt.

Daß das rote Paradies auf Erden hinter dem Eisernen Vorhang liege oder doch dort—langfristig— im Entstehen sei, mochten Intellektuelle sich und anderen glauben machen; dem traditionellen Wähler- und Mitgliederreservoir der Kommunisten und sogar ihrer Sympathisanten-Schickeria in Paris, Rom usf. war derlei immer weniger einzureden.

Mit dem Prestigeschwund der Sowjetunion verloren die kommunistischen Parteien an Glaubhaftigkeit und Ansehen. Zugleich minderte die Desintegration des internationalen Kommunismus aber auch die alten und die neuen Bedrohungsängste.

Die Kommunisten außerhalb der unmittelbaren Disziplinie-rungsmacht des Kremls waren unter Zugzwang geraten. Was Tito, Mao Dsedong und andere auf ihre Weise schon vorexerziert hatten, wurde - wer hätte dafür nicht Verständnis gehabt? - zur Flucht nach vorne.

Die viferen Kommunisten besannen sich, zudem nach dem Mißlingen der linkstotalitären Vorhaben in Chile und in Portugal und nach dem Ende des Fran-co-Regimes in Spanien, auf die bislang verachteten und verketzerten oder bloß formal in Anspruch genommenen „bürgerlichen" Errungenschaften der Französischen Revolution, auf die Demokratie freiheitlichen Musters, auf die Rechtsstaatlichkeit.

Berlinguer, nach Luigi Longo der Erbe des erst zuallerletzt, vor seinem Tod geläuterten Stalin-Büttels Togliatti, der Ghetto-Kommunist Marchais und der Stalin-Rabauke Santiago Carrillo taten sich, wunder was, in den Augen einer nur zu gern düpierten Medienöffentlichkeit gar noch mit dem unverbesserlichen Stalinisten Alvaro Cunhal zusammen, um sich zu unermüdlichen Schreihälsen für eine freiheitlichdemokratische Gesellschaftsordnung zu mausern.

Kaum jemand wollte da auch nur fragen, wie denn ausgerechnet diese Herrschaften zur Wahrung, genauer: zur Realisierung der Werte der freien Welt qualifiziert seien, denn richtig realisiert könnte die wahre Demokratie ja ohnehin erst einzig und allein unter ihrer Regie, vorerst Mitregie werden ... Aber ist nicht die (Vor)Freude über jeden Bekehrten stets größer als über die stinkbrave Herde?

Man wollte nur zu gerne betrogen werden, und so begann das Spiel, das nicht enden sollte: Wie meinen es die neuen Drei und ihre Nachahmer da und dort, von England über Venezueala bis Japan, nun wirklich; Ist's eine Finte, ist's Täuschung, haben sie sich gewandelt, haben sie sich vom Kreml -mehr oder minder — gelöst?

Ins Feuer der Illusionen bliesen Moskaus Sittenwächter heftig mit: Ihnen paßte das neue Makeup nicht, ihnen stieß die Kritik der „Euro"-Kommunisten an der Ostblock-Wirklichkeit sauer auf - denn um ihre Kreditwürdigkeit zurückzuerlangen, sparten die drei Musketiere des neuen Ismus, allen voran der famose Carrillo, nicht mit antisowjetischer Medi-sance.

Das Politphantom hatte Hoch-konjuktur; nein: man hatte eine Sache mit Hochkonjuktur. Eine Sache? War da Konkretes? Gewiß: die Eilfertigkeit, mit der in einer schier unglaublichen, heute vergessenen Masse bedrucktes Papier zu der Schein-Novität produziert wurde. Kein gelehrtes oder frisch promoviertes Huhn, das nicht sogleich darüber zu gak-kern gewußt hätte!

Ex-Kommunisten mit unverblichenem Nimbus, stets kompetent, verteilten Weihen und Würden; so wurden, sprachlich angemessen, der etwas hartleibige Marchais und seine KP vorerst nur zum Kandidaten für das neue, höhere Reifestadium des Sozialismus/Kommunismus ernannt ... Schon war nimmermüder Streit darüber im Gange, wer die Heilsvokabel als erster ersonnen und in die Welt gesetzt haben könnte.

Wer damals festzuhalten wagte, daß die schönen Sprüche ja auch die Verfassungstexte der kommunistischen Staaten zieren, kommunistische Führer unablässig ihr Selbstlob damit schmük-ken und nicht anders mit der „Volksdemokratie" 1945 in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan begonnen worden war, wurde, bestenfalls, als ungläubiger Thomas belächelt. Wer von den damals beglückt gluckenden Oberbegutachtern möchte heute daran erinnert werden?

Als Tatbestand bleibt: Die sachliche Analyse, mit welcher den Ursachen des Schwenks, des Umschwungs oder der halbherzigen Wandlung wider Willen nachgespürt wurde, war selten. Das Geschrei, das Gepluster überwogen.

Eine triste Bilanz. Hauptsünder, Hauptverführer in Sachen „Euro"-Kommunismus waren gerade diejenigen, die es (hätten) besser wissen müssen, aus leidvoller Erfahrung: In der Bundesrepublik Deutschland die Sozialdemokraten, in Italien die Christdemokraten. Da ist hin und her gefädelt worden, da wurden die falschen Hoffnungen ausgebrütet und genährt. Das ließ die Journalisten und Politologen heißlaufen, die Suppe überkochen.

Wie gewonnen, so zerronnen. Das Spektakel einer neuen Einheit mit Ausstrahlungskraft nach Ost und West, Nord und Süd machte sich selbst zuschanden. Das Mediengespenst löste sich auf, als es sich in der jeweils so unterschiedlichen Wirklichkeit Spaniens, Frankreichs und Italiens bewähren sollte.

Carrillo kehrte wieder den un-bekehrten Doktrinär hervor, als es gegen seine Machtposition ging; heute ist die spanische KP fragmentiert. Marchais' Genossen sitzen in Mitterrands Regierung und bekämpfen sie von außen, nicht zum Vorteil des Images der Partei, wohl aber erfolgreich bei der Eroberung von Schlüsselstellungen der Republik.

Berlinguers Tod bringt für einen Moment mehr Leute auf die Straße als er es als Lebender noch vermocht hätte. Die Leere, die er hinterläßt, macht den von ihm hintangehaltenen Konflikt zwischen den waschechten Moskowitern, den Wölfen im Schafspelz und den „Radieschen" (außen rot, innen weiß) erneut akut, dieses Mal in aller Schärfe, eben in der Machtfrage.

Es wird sich zeigen, ob Europa die Lektion „Euro"-Kommunis-mus je gelernt haben wird.

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