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Die „Taufe“ Chinas

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Die Bedingungen, die der Kommunismus in China für die Errichtung eines kommunistischen Großreiches chinesischer Nation vorfand, waren ungleich günstiger als sonstwo bei der Bildung kommunistischer Regierungen. Man kann sagen, daß in China 1949 wahrscheinlich eine Situation bestand, die geradezu auf die Realisierung des Marxismus angelegt war, dessen Denkelemente und Forderungen den Massen der chinesischen Bauern geeignet erschienen, sie aus einem Elend, das für sie die Summe aller geschichtlichen und aller Umwelterfahrungen darstellte, zu befreien. Der Marxismus hatte für China geradezu die Qualität einer „frohen“ Botschaft.

So war etwa der chinesische familiäre Patriarchalis m us offensichtlich nicht jene idyllische Institution, als welche sie uns zuweilen von Chinakennern und solchen, die vorgeben, es zu sein, geschildert wird. Die Absolutsetzung der Herrschaft des Familienoberhauptes und die starre Gerontokratie war (auch und in einem beträchtlichen Umfang) eine besondere und raffinierte Form der Ausnutzung vor allem der Jungen in den Familien (ganz besonders der jungen Frauen) und eine drastische Form, wie sich die Alten ihren Lebensunterhalt mangels anderer gesetzlicher Möglichkeiten sicherten. Der bekundete Wille des Kommunismus, die statische Organisation der Großfamilie zu liquidieren und das Volk in Individuen aufzugliedern, fand weithin die Billigung der Jungen. Dies um so mehr, als dem, was man oft sehr oberflächlich den „Familiengeist“ nennt, in China keine gültige Idee zu entsprechen schien, kaum jedenfalls die Idee der Ehrfurcht vor dem Alter. Ebenso fehlte es an einem Bezug von der Familie (die zuvorderst doch Kleingesellschaft und nicht Gemeinschaft zu sein schien) zu einem „Ordo“, etwa zu einem metaphysisch begründeten Vatergedanken (schon wegen des Matriarchats, das für die Führung in der chinesischen Familie' kennzeichnend war).

Dem Kommunismus widerstand, als er die ersten Linien durchbrechen konnte, auch kein Glaube. Die bestehenden traditionellen Religionen erwiesen sich in der Stunde der Bedrohung, da ein fundiertes Bekenntnis gefordert wurde, als ein wohlgeordnetes System von Gebräuchen (wie der Katholizismus in Südamerika und auch in Italien), bar eines auch in den Grenz- und Konfliktsituationen des Alltags brauchbaren Ethos.

Daher stand, als der Kommunismus sich in China der Menschen absolut — ihres Willens und ihres

Denkens — bemächtigte, beileibe nicht Glaube gegen Glaube, sondern Glaube (und das ist der Kommunismus in Asien mehr denn anderswo) gegen formalbestimmtes Brauchtum und unverbindliche und bei näherem Besicht vielfach sinnlos scheinende Regeln, die von ungebildeten Bonzen kaum brauchbar interpretiert werden konnten. Es war dem „Kommissar“ ein leichtes, den Einfluß des Bonzen (der zudem oft kaum geltend gemacht wurde) auszuschalten.

Wenn etwas die rasante Eroberung des chinesischen Reiches durch eine Minderheit begünstigte, dann war es das Fehlen einer auch nur im Ansatz demokratischen Ordnung, ganz zu schweigen von einer demokratischen Erfahrung. Die Funktionäre der Nationalregierung (als die letzten Repräsentanten des „Westens“) erwiesen sich in der Mehrheit als unfähig und volksfremd. Der Terror, den die Männer der Nationalregierung nach dem Abzug der Japaner auszuüben versuchten, war lediglich durch Korruption gemildert und hatte insoweit menschlich-chinesische Züge. Die Kommunisten aber fanden keinen organisierten Widerstand, sondern Zustimmung in einem Umfang, der es ihnen möglich machte, die Reihen ihrer Gegner zuweilen mühelos zu durchbrechen.

Wer in Europa vom chinesischen Volk einen Widerstand gegen den Kommunismus erhofft hatte, wurde enttäuscht. Warum denn auch Widerstand? Das, was die Massen bisher von ihren Regierungen, von der zentralen wie den jeweiligen Provinzial-regierungen, erlebt hatten, war nichts als eine nie abgerissene Kette von grundherrlicher Bewucherung und einer willkürlichen Besteuerung, die beide das Leben der Massen kaum „lebenswert“ machten. Die Sorge der chinesischen Bauern war nicht etwa die Sicherung von Wohlfahrt. Worum es den Massen ging, das war Ueberleben. Was sollte einem Volk, das gewohnt war, sich zwischen den Situationen von Hungern und Verhungern zu befinden, der Kommunismus noch an Schrecken bringen?

Dazu kam noch, daß es der Kommunismus, obwohl ein geistiges Produkt der weißen Rasse, verstand, gegen eben diese weiße Rasse die Massen, vor allem aber die Intelligenz, aufzubringen. Der weiße Mann war in einer festgefressenen Erinnerung für den einfachen Mann der Eroberer, der außerhalb jeder Ordnung stehende privilegierte Kolonisator. Die Ideologie des Antikolonialismus ruht auf alten Ressentiments, die so stark waren und sind, daß auch noch nach dem Abzug der weißen Herren das konstruierte Feindgebilde des „Imperialismus“ geeignet war, den Massen einen Fluchtpunkt ihres Hasses abzugeben.

Was die Chinesen wollten, war nun freilich nicht der Marxismus, sondern leben wie Menschen, ein Stück Land haben und satt sein dürfen, nicht allein am Neujahrstag, sondern alle Tage des Jahres. Daher war der Wunsch der Massen nicht die Revolution, sondern die Reformation des Bestehenden, keineswegs aber die Konstitution eines Systems, das aus einer zu seinem Wesen gehörenden Dynamik heraus das Bestehende völlig abbrechen und den Baugrund aller bisherigen Institutionen einebnen mußte.

Die mehrheitliche Zustimmung zur Lehre des Marxismus, die den Charakter einer Heilsbotschaft hatte (und hat: bei allen sozial Unerlösten), liegt vielleicht darin, daß vom Marxismus (in seinen offenen Dogmen) christliche Gedanken in einem erheblichen Umfang -Awenn auch ungewollt — rezipiert wurden, freilich völlig deformiert und mit anderen, innerweltlichen Bezügen versehen. Die Künder des Evangeliums waren bislang aber Angehörige der gleichen Rasse gewesen, die es durch lange Zeit vermocht hatte, den chinesischen Nationalstolz (dessen Vorhandensein übersehen wurde) in einer uns unvorstellbaren Weise zu demütigen. Die Gesellschaftsordnung, die im Dekalog grundgelegt ist, ist aber der Ordo, den sich die Völker Asiens ersehnen. Der Erfolg des Marxismus ist (so grotesk das vielleicht klingen mag) ein Beweis dafür. Nur wollen die Chinesen, wie alle reifen und auch die jungen Völker, das Wort Gottes von Männern ihrer Sprache verkündet haben, ein Grund mehr, die Ent-europäisierung unserer Kirche zu beschleunigen.

Seit 1949 häuft sich die Chinaliteratur. Soweit nicht Chinesen die Autoren sind, zeigt sich bei den Verfassern das Bemühen, das Phänomen „China“ nicht nur darzustellen, sondern den im letzten fu£ uns doch unnahbaren Menschen Asiens zu verstehen, wobei freilich der Versuch überwiegt, bei China das zu zeigen, was ist, und nicht, wie es zu dem kommen konnte, was wir die „chinesische Revolution“ nennen.

Jean Monsterleet (ehemals Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Tsinkou-Universität in Tsientsin). der Verfasser des im Herold-Verlag erschienenen Buches „Chinas Märtyrer sprechen“, gibt in seinem jüngst erschienenen Werk „Wird der gelbe Mann rot?“ (Verlag Herder, Freiburg, 328 Seiten) eine sachkundige Darstellung vor allem der institutionellen Entwicklung des chinesischen Kommunismus. In der ganzen Breite des Problems werden sowohl Fragen der Wirtschaft, der Organisation, der Erziehung wie der Landreform behandelt, dabei stets von den Quellen ausgehend. Der Verfasser war selbst durch Jahre Zeuge der Tätigkeit des neuen Regimes und ist daher in der Lage, aus eigener Anschauung und Erfahrung wie unter Verwendung umfangreichen Materials zu zeigen, wie versucht wurde und wird, die Chinesen schon in der Wolle umzufärben. Wir lernen an Hand der Schilderungen des Verfassers verstehen, daß man bei Vergleich chinesischer Verhältnisse mit den uns bekannten von völlig anderen Begriffsinhalten ausgehen muß. So etwa, wenn man von der Enteignung der „Großgrundbesitzer“ erfährt und dann feststellt, daß ein chinesischer Bauer schon bei fünf Hektar die Qualität eines „Großgrundbesitzers“ zugesprochen erhielt, um dann als potentieller Gegner des neuen Regimes liquidiert zu werden. Der Verfasser ist trotz aller Fakten, die ihm Argumente gegen den Kommunismus in einem reichlichen Umfang geben, bemüht, verständlich zu machen, welche Bedingungen da waren, die eine für europäische Begriffe unverständliche Grausamkeit in der Durchführung der revolutionären Akte dem chinesischen Volk zu einem großen Teil wenn schon nicht willkommen, so doch akzeptabel erscheinen ließen. Daß die Landreform, die Uebereignung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, keineswegs im Interesse des Bauern erfolgte, sondern eine Etappe des Klassenkampfes und auf der Linie der völligen Kolchosisierung gelegen war, wird an Hand von Fakten und Dokumenten bewiesen. Eingehend widmet der Verfasser sich auch der Schilderung des Kampfes gegen die katholische Kirche, der über die Errichtung von Kirchensowjets bis zur Gehirnwäsche wenn nicht zur Liquidierung der bekennenden Christen geht. Da, wo Kommunismus ist, hat eben die Religion, weil unnütz und auch „Partei“, keinen Platz. Das gilt auch in China.

Ein hervorragend geschriebenes und materialmäßig belegtes Buch, jedem empfohlen, der über das „neue“ China mehr erfahren will, als in „Reisebeschreibungen“ steht.

Während Monsterleet Sachlichkeit mit der Darstellung persönlicher Erlebnisse paart, ist Richard Walker (Historiker der Universität Yale) mit seinem Buch „China unter dem Kommunismus“ (Fr.-Vorwerck-Verlag, Stuttgart, 456 Seiten) ganz Sachlichkeit und Gründlichkeit. Davon zeugt der

Tatbestand, daß allein das Sach- und Personenverzeichnis die Seiten 365 bis 452 umfaßt. Das verwertete Material ist von einer geradezu unglaublichen Fülle, insbesondere was den wirtschaftlichen Teil betrifft. So wird geschildert, wie es den Kommunisten, einer Regierung von „Bauerntölpeln“, gelang, wirtschaftliche Fortschritte zu erzielen, und zwar derart, daß der ökonomische Status der Vorkriegszeit schon überschritten ist. Neben den ökonomischen und politischen Fakten (vor allem soweit sie die Außenpolitik und das Verhältnis zu den USA und Sowjetrußland betreffen) weist der Verfasser auch auf das Raffinement hin, mit der ein ganzes Volk umerzogen und zu einem Umdenken veranlaßt wird, so daß das oft nur als Phrase zu verstehende Wort „neu“ im Zusammenhang mit China eine besondere Bedeutung erhält, weil tatsächlich Asien durch den Kommunismus ein anderes Gesicht und eine andere Geistigkeit bekommt. Man denke an die Wirkung der dauernden „Beichten“, die es den Chinesen nicht möglich machen, wie bisher, zumindest nicht im gleichen Umfang, Maske zu tragen.

Die von Walker publizierten Ziffern beweisen, daß auch in China (wie schon in Rußland) der Kommunismus beileibe keine Erhebung der „Arbeiterklasse“ gewesen ist, weil diese als gesellschaftliche Großgruppe einfach nicht da war, sondern im Wesen eine Sache von Intellektuellen, die es aber vermochten, in Erkenntnis der sachlichen Möglichkeiten die Massen auf ihre Seite zu bringen.

Der Verfasser nimmt eindeutig den us-amerikani-schen Standpunkt ein, ein Umstand, der sich in keiner Weise störend bemerkbar macht, weil W. weitgehend vom Material ausgeht und weniger die Interpretationen als eben das Material das Wertvolle des Buches sind.

Völlig anders als die beiden Bücher ist die Sammlung von Berichten schweizerischer katholischer Missionäre, die P. Ambros R u s t SMB. unter dem Titel „Die rote Nacht“ (Rex-Verlag, München, 264 Seiten, Preis 11 DM) herausgegeben hat. Keine Gesamtübersicht, keine Statistiken und keine Analysen, sondern Erlebnisse von Missionären, die vorne an der Front gestanden hatten, vom ersten Tag bis zu ihrer Ausweisung aus ihrem Missionsbezirk (Tsitsihar). So ist das Buch zugleich und geradezu notwendig eine Schilderung stillen qnd vor der Weltöffentlichkeit unbemerkt gebliebenen Heroismus von einsamen Kämpfern, die ihren Posten hielten, bis sie mit Gewalt entfernt wurden. Das Verhalten der Chinamissionäre (wie vieler Christen hinter dem Eisernen Vorhang) ist ein Beweis, daß auch unsere Zeit des Heldentums fähig und daß die Bereitschaft begnadeter Menschen zum Martyrium als ein Zeugnis vor aller Welt da ist, wie seit zwei Jahrtausenden. Das in einfacher Sprache gehaltene, nur auf Erlebnisschilderungen aufgebaute Buch der Schweizer Missionäre ist ein Beweis dafür.

Wieder anders -Eileen Chang („Das Reispflanzerlied“, Verlag Eugen Diederichs, Düsseldorf-Köln, 226 Seiten). Ebenfalls ist es eine Summe von kleinen Dingen, die geschildert werden, diesmal in Form eines R o m a n e s, der in Sprache (einschließlich der vollendeten Form der Uebersetzung: Gabriele Eckehard) wie in der Art der Milieuschilderung wahrscheinlich zum Besten zählt, was uns in den letzten Jahren an fernöstlicher Literatur zugänglich gemacht wurde. Das Milieu des Romanes ist das chinesische Dorf. Stellvertretend für die Millionen kleiner Bauern ist es ein Reisbauern-ehepaar, das an sich die Revolution erlebt. Zuerst die große Chance, aus neuem Land mehr Einkommen zu erzielen, und dann eine tragische Entwicklung bis hin zum Freitod, der eine neue Form der Entbehrung und der Depossedierung abschließt. Großartig die Darstellung des chinesischen Alltags, des Lebens der kleinen Leute, die erkennen lernen, daß auch die neuen Herren nur Fortsetzer von Methoden der Verwaltung und der Steuereinhebung sind, die bisher und zurück bis in geschichtslose Zeiten in China geübt worden sind.

Wer schon nicht an den Problemen der chinesischen Revolution interessiert ist, der sollte — auf der Suche nach einer literarischen Kostbarkeit — das Buch lesen.

Und dann ist da noch ein Buch von Maria Yen, einer ehemaligen Studentin der Universität Peita in Peking („China kratzt den Reisnapf aus“, Eduard-Wancura-Verlag, Wien-Stuttgart, 398 Seiten). Die Verfasserin schildert, vom Leben in einer Studentenstadt aus, die stabile Art. wie der Kommunismus langsam und bei dauernder ideologischer Verdeckung sich der Studenten ihrer Universität zu bemächtigen sucht und sie zu diesem Zweck in eine besondere Form der Disziplinierung nimmt, die man bisher nicht gewohnt war. Aus Hoffnung wird Mißtrauen, und schließlich reift in der Autorin eine Abneigung gegen die neuen Herren, die für sie Anlaß zur Emigration ist. Nur ist leider nicht ersichtlich, welche Stellung die Verfasserin selbst einnimmt und von welcher weltanschaulichen Position her sie den Kommunismus ablehnt. Es scheint so (wenn man zwischen den Zeilen liest), daß es zu einem guten Teil ganz einfache frauliche Anliegen waren, die von den neuen Herren nicht erfüllt wurden, und daß aus Modesorgen in einer keineswegs ungewöhnlichen Sublimation ein Antikommunismus bei der Verfasserin entstand, der es unmöglich macht, weil ohne jede Argumentation, sich mit ihr auseinanderzusetzen. So ist das Buch schließlich eine amüsante (wenn auch stilistisch keineswegs hervorragende) Studentenromanze einer Chinesin, die trotz ihrer Erlebnisse nicht zu begreifen vermochte, daß man Glauben nur im Glauben widerstehen kann und daß etwa der Mangel an Komfort allein noch nicht Anlaß ist, ein System zu disqualifizieren, wie dies auch bei uns gegenüber dem NS-Regime getan wurde. Ein unbefriedigendes Buch.

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