6863000-1977_44_08.jpg
Digital In Arbeit

Grauer Oktober oder: Die Last des Imperiums

19451960198020002020

Zwischen Hamburg, Berlin und Bonn haben innenpolitische Frustration und Ranküne als eine der jüngeren Polit-Mythen die Unterstellung hervorgebracht, daß eine starke selbstbewußte DDR ein wünschenswerter Partner Bonns und ein wesentlicher Entspannungsfaktor sei, denn das führe „drüben zu einer Stabilisierung - und damit historisch gesetzmäßig auch zu einer Differenzierung politischer Herrschaft”. Auch das französische Sonderinteresse spinnt ja an dem Faden, daß eine Sowjetunion, der man wirtschaftlich entgegenkomme, sich im Innern eher auflok- kere. Bonn soll mit der Fabel dazu bewegt werden, die andere Seite nicht ungebührlich auf das nächste Nachgeben und andere Fehler warten zu lassen (daß sie warten, was anscheinend ihr Privileg ist, versichert Herbert Wehner). Schön wäre es, wenn die Geschichte der Sowjetunion, ihr Aufstieg zur Imperialmacht, die Wunschformel aus der Märchenwelt in die Wirklichkeit versetzt hätte.

19451960198020002020

Zwischen Hamburg, Berlin und Bonn haben innenpolitische Frustration und Ranküne als eine der jüngeren Polit-Mythen die Unterstellung hervorgebracht, daß eine starke selbstbewußte DDR ein wünschenswerter Partner Bonns und ein wesentlicher Entspannungsfaktor sei, denn das führe „drüben zu einer Stabilisierung - und damit historisch gesetzmäßig auch zu einer Differenzierung politischer Herrschaft”. Auch das französische Sonderinteresse spinnt ja an dem Faden, daß eine Sowjetunion, der man wirtschaftlich entgegenkomme, sich im Innern eher auflok- kere. Bonn soll mit der Fabel dazu bewegt werden, die andere Seite nicht ungebührlich auf das nächste Nachgeben und andere Fehler warten zu lassen (daß sie warten, was anscheinend ihr Privileg ist, versichert Herbert Wehner). Schön wäre es, wenn die Geschichte der Sowjetunion, ihr Aufstieg zur Imperialmacht, die Wunschformel aus der Märchenwelt in die Wirklichkeit versetzt hätte.

Werbung
Werbung
Werbung

Diese innerdeutsche Variante euro- kommunistischer Phantasmen verweist deshalb auf die Existenzfrage des Sowjetsystems, weil sie von den außenpolitischen Problembereichen, in die der Außenstehende mit Wünschen oder Ängsten unmittelbar selbst- meist kurzsichtig zwar - verstrickt ist, zum Behauptungsinteresse der Sowjetmacht und ihrer führenden und mittragenden Schichten leitet.

Wir stehen vor einigen Roßtäusche- reien: So wenig wie die deutschen Po- litbanditen Hitlers children sind, oder bloß die „schrecklichen entlaufenen Wohlstandskinder” ihrer Ablenkungsund Verharmlosungsanwälte in der Medienszene, so wenig der Stalinismus nichts als eine bedauerliche Panne war, so wenig ist der Kommunismus ein „Betriebsunfall”, wie Rudolf Augstein rätselt (Der Spiegel 29/1977), weil die Geschichte kein Betrieb ist - gerade die Geschichte der kommunistischen Regime und Parteien widerlegt den Technizismus aufs peinvollste kein halbwegs rationales Unternehmen mit so manchen Versehen und Unfällen.

Wer, mit Augstein, auf der Höhe der Zeit zu wandeln meint, wenn er so „gewichtige Eurokommunisten” wie Santiago Carrillo und Jean Ellenstein zu Rate zieht, plaudert nach, daß Lenins und Stalins Partei, unnötig brutal zwar, aber mi? Erfolg, die Reformanläufe zaristischer Minister fortgesetzt hätte. Dann zeigt sich auch per Hamburger Rosamarxismus die angeblich gelungene Akkumulation des Kapitals als „Kern” des russisch-sowjetischen Phänomens, ohne daß gewußt oder daran gedacht würde, daß damit die Modemisierungsformel einer „Denkschule” der sechziger Jahre, die sich von „Kaltem Krieg” und Totalitarismuskonzept abkoppeln wollte - weil die harte Wahrheit politisch nicht mehr opportun war - aus dem „Umfeld” der Forschung in den innerkommunistischen Zwist und die politische Publizistik rutscht, während ihre Verfechter von einst sich über ihre Gültigkeit längst nicht mehr einig sind.

Damit aber werden dann auch die Klischees amtlicher Geschichtsklitte- rung. der Selbstvejrherrlichung . und Apologie übernommen. Kein Wort über die echte, alles andere als vorläuferhafte Revolution vom Februar 1917, die den Oktobersturz als Rückfall kenntlich machen würde, als Re-Eta- blierung des eben erst gesprengten Absolutismus, nichts über das Aus- einandeijagen der Konstituante durch die Bolschewiki. Kein Wort darüber, Wie Lenin 1918/19 die ersten „Eurokommunisten” - in der Ukraine - Mores lehrte. Kein Wort über Kronstadt, blutige Besiegelung des Neoabsolutismus. Bei einer solchen Stelzenoptik verlautet schließlich: „Eine nichtkommunistische Verwaltung dieser Riesenräume Rußland und China kann man sich kaum vorstellen”.

Das Fragen nach der weltgeschichtlichen Bilanz des Kommunismus endet rhetorisch: Wer sollte, nach dem Zarentum, das Riesenreich mit seinen weit mehr als hundert Völkerschaften künftig Zusammenhalten und verhindern, daß imperialistische Mächte seine Bestandteile an sich rissen? Augsteins Schlußpunkt: Imperialismen machen Imperialismus unumgänglich; schuld sind, bei jeder linksgespulten Geschichtsdeutung, wie gehabt, die anderen oder, Richard Löwenthal (Paul Sering) hinterhergeschrieben, Jene Tendenz zu immer größeren Produktionseinheiten in immer größeren Räumen”.

Damit fängt, heute erst recht, das Fragen an. Lenin hat schon vor 1914 zentralistisch gedacht, sich und seine Partei als Erben des zaristischen Imperiums gesehen. Die Völker und Völkerschaften des UdSSR sind nicht mehr dieselben wie 1917; sie werden nicht gefragt, wie sie heute über den „Zusammenhalt” denken. Noch heben sich ihre divergierenden Interessen auf, stabilisiert ihre Uneinigkeit die totalitäre „Verwaltung” des Riesenreiches. Sie haben alle nationale Alternativen, nur die Großrussen, der größte ostslawische Stamm, das dominierende Staatsvolk, hat keine. Es kann sich nicht aus Königsberg, Kischinjow, Alma Ata oder Wladiwostok in Siedlungsräumen mit natürlichen Grenzen zurückziehen. Es gibt sie nicht, und die Russen konnten sie in ihrem Uberlebenskampf gegen Tataren, Schweden, Polen, Türken, Deutsche nie ausbilden, Ersatz nur kolonisierend, gewaltsam schaffen.

Nicht die Habsburger Monarchie bietet sich zum Vergleich an, auch nicht Jugolawien als Mini-Vielvölker- union mit demselben System, sondern das südliche Afrika. Gleichviel, mit welchem System die Russen den Großraum verwalten - sie können davon nicht ablassen, ohne sich selbst aufzugeben. Das ist der Kern; nicht das System, die fragwürdige Modernisierung. Dieser Riese Atlas ist mit seiner Last verwachsen. Er kann sich nicht von ihr lösen, er muß sie tragen oder mit ihr zugrundegehen. Der Tragödie des Russentums, des weißen Mannes in Zwischenasien, wird kein Neomarxismus gerecht, eher eine geohistorische Betrachtungsweise, die der Nazismus mit seinen gräßlichen Wahnideen jedoch diskreditiert hat.

Ihren Imperialismus, ihre Ängste und Süchte hat die Geographie den Russen aufgeladen. Sie sind dabei immer von Fremdstämmigen oder fremden Lehren beherrscht worden. Jetzt wären die Erben der Massaker endlich dabei, ihr Imperium, aber auch Bürokratie, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst in Besitz zu nehmen, von Deutschstämmigen, Juden und anderen freizubekommen - denn Rus- sifizierung heißt nicht zuletzt auch die späte Eroberung der Intelligenzija- Positionen, der Produktivberufe durch Russen.

Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes? Von Kommunismus kann ernstlich nicht die Rede sein, und die Folgen der „Elektrifizierung”, der Erschließung des Landes sind zur Nagelprobe der Sowjetmacht, des Hegemonialstatus der Russen geworden. Nicht eine quicklebendige oder sklerotische Ideologie mit oder ohne Überzeugungskraft hält das Reich zusammen, sondern verbissener Behauptungswille und die Angst aller vor dem entfesselten Chaos. Deshalb besteht die Misere weiter, wird der Teufelsknoten nicht durchgehauen, wehren sich diejenigen, die in der Sowjetunion die Lage erkennen, dagegen, daß eines der vielen Streichhölzer die Zündschnur zur Revolution in Brand setzt, um an Bernhard Levins Bild und Einschätzung der Gegenwartssituation in der Sowjetunion zu erinnern. Daher die verkrampfte Hegemonialpräsenz in überdehnten Machtsphären, der Rüstungsaufwand, das weltweite Uber engagement. Deshalb ist Jene Tendenz”, die bei Augstein letztlich alles rechtfertigen soll, das Verhängnis.

Um die „Verwaltung” von Riesenräumen, und ob sie sowjetkommunistisch, vielleicht reform- oder nichtkommunistisch sei, geht es im letzten Drittel des Jahrhunderts denn auch nicht. Das laut Carrillo, Augstein und ihren Vor- und Nachsängern akkumulierte Kapital - Kriegsbeute und

Transfer westlicher Technologie und Technik bleiben, unter gentlemen, ungenannt - ist als militärisches Potential eine fruchtlose Investition, eine ungeheure Fehlinvestition zur Selbstverteidigung, weil sich so, nach außen, das Russentum nicht verteidigen muß, nach innen damit aber nicht verteidigen kann. Die Militarisierung verfestigt zwar den Belagerungszustand, den das Regime braucht, und sie neutralisiert für Jahre das Unruhepotential Jugend in der Armee; der Droh- apparat nach außen wirkt dort freilich integrierend, stabilisiert und hält fit, treibt die kräftezehrende Rüstungsspirale weiter, und dieser eigentliche, aber Kontra-Effekt der fehlgeleiteten Akkumulationsleistung gehört zur Halbzeitbilanz des Roten Oktober nach 1947.

Unvollendeter Oktober

Auch die Dissidenten sind russischer als man im Westen wahrnimmt, und nur wenige unter ihnen verschließen sich nicht der Erkenntnis, daß die Bilanz des Oktober von Jahr zu Jahr drückender von den non-whites der Union gezogen wird - mit dem Blick auf die Kolossalziffem der machtlosen Macht militärischen Gehabes.

Nachdem die kommunistische Utopie lächerlich geworden ist - allein angesichts der ökologischen Weltprobleme —, was ja die Breschnjewsche Verfassung mehr eingesteht als verdeckt, bleibt dem Kreml als letzte Doktrin und allzu schwache Reichsideologie eine verlogene Einheitsmythologie.

Die von den Kommunisten beherrschten Völker sehen in ihren Landsleuten keine großen und kleinen, aber allesamt verdienstvollen Erziehungsautoritäten und Entwicklungsmanager, wie es sich politolo- gisch so schön macht, sondern Besatzer: Was werden die Russen sich morgen von ihren nichtrussischen Kolo- nialvölkem sagen und antun lassen müssen, um zu1 lernen, wie Briten, Franzosen und andere vor ihnen, Volk unter Völkern und Völkchen zu sein? Die Russen bringen mit ihrer bäuer- lich-kolonialen Mentalität und Praxis, die sie ja nicht, nur außerhalb ihrer unmittelbaren Herrschaftsgebiete mit der Verständigkeit des Bären im Bienenhaus betreiben, und mit ihrer in der Mehrheit immer noch präurbanen Lebensweise die allerwenigsten Voraussetzungen für den inneren Ausgleich mit.

Die KP ist als innerstaatliche Internationale nicht das geeignete Reforminstrument Und die neuerliche Vereinigung von Partei- und Staatsspitze in einer Person, die neozaristische Identität von ideologisch-geistlichem und staatlichem Oberhaupt ist als Schrumpfung der geheiligten „kollektiven Führung” zum Einserbanditen abermals ein Rückfall; 1977 eher ein Schwächezeichen - nicht nur Bre- schnjews, sondern des Systems—als alles andere.

Die Mahnung an uns

Dem Putsch der Bolschewiki im Oktober 1917 schreiben weltverändernde Qualität im Sinne von befreiendem Fortschritt und von Menschheitsbeglückung nur noch diejenigen zu, die es müssen, oder aber geistig Verklemmte und Spaßvögel. Es macht sich gut und füllt Bücher, zu rätseln, weshalb eine kaputte Theorie immer wieder Menschen in ihren Bann zieht.

Im Rückblick erhärtet sich nur einmal mehr das Bekenntnis Dolf Sternbergers, der 1917 schon zehn Jahre Eilt war, aH denen gegenüber, die meinen, der parlamentarischen Demokratie endlich realen, also totalitären Sozialismus aufpacken zu müssen, wenngleich Sternberg, anders als 1917, heute vielleicht die eigene Welt nicht nur mit „Klauen und Zähnen” oder mißdeuteter Neutronen-„Bombe” ins Bild bringen und die Terroristen mit einem anderen Beiwort belegen würde: Unsere Aufgabe ist nicht, eine neue Revolution hinzuzufügen, gar die russische nachzuahfnen, sondern vielmehr, die Früchte jener abendländischen Revolution mit Klauen und Zähnen festzuhalten, diese Freiheitsgewinne zu bewahren - in diesem Sinne: konservativ zu sein - auch gegen unsere kleinen Terroristen, die nicht mehr wissen, was Freiheit ist, weil sie in der Freiheit aufgewachsen sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung