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Der Nachwuchs tagte...

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Es wurde in der Weltöffentlichkeit nur am Rande vermerkt, daß vom 16. bis 19. April 1962 im Kreml der Komsomol (d. i. Kommunisticeskij Sojur Molodezi, Kommunistischer Jugendverband) seinen XIV. Kongreß abhielt. Von den insgesamt 3878 teilnehmenden Delegierten waren 1237 Arbeiter der Industrie, des Verkehrs und des Bauwesens, 730 Delegierte kamen aus der Landwirtschaft, die restlichen waren Studenten. 90 Prozent aller Delegierten jedoch können Hochschulstudien bzw. Mittelschulreifeprüfung nachweisen. Diese Delegierten vertraten 19,5 Millionen junge Menschen von 61 in der Sowjetunion beheimateten Nationen.

Die Bedeutung, die der Komsomolbewegung beigemessen wird, kann man leicht aus dem traditionellen Aufruf der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zum 1. Mai ersehen, in dem die Komsomolzen als „aktive Kämpfer der Sache Lenins und des Kommunismus“, als „Fortsetzer der Sache der Revolution“ und als „Reserven der Kommunistischen Partei“ gerühmt werden.

Der Komsomol wurde am 4. November 1918 gegründet. Die wenigsten werden wissen, daß gerade um diese Zeit in Rußland das Pfadfindertum einen ungeahnten Auftrieb erlebte. Die soziologischen Ursachen dazu muß man wohl in der allgemeinen Um-krempelung des Lebens während der Revolution suchen. Damals war das Unterste zuoberst gekehrt, und jeder suchte auf seine Art einen Weg in das Neue. Die Jugend tobte sich in den Pfadfindergruppen aus, deren es tausende gab. Man veranstaltete Märsche und Ausflüge, auf denen man Lieder sang, man suchte den Alten zu helfen, die Straße zu überqueren oder eine Tasche zu tragen (man mußte ia schließlich täglich eine gute Tat vollbringen), man rauchte nicht, da dies für einen Pfadfinder verpönt war. Die Politik jedoch ließ man nßfe. außer acht: Doch in erster Linie waren die Pfadfinder eine Organisation, tfrr mehr aus Zufall denn aus Vorbedacht die bürgerliche Jugend anzog, wenn auch ein gewisser Zustrom aus der Arbeiterjugend festzustellen war. Jedenfalls war 'die Organisation in der Zeit der Revolution für die jungen Menschen eine 'Bewegung voll Romantik und Abenteuer. Und nun erschienen auf einmal Buben und Mädchen mit roten Halstüchern, voll Haß gegen alles Bürgerliche, junge Menschen, die nichts mit den Pfadfindern gemein haben wollten und sich mit ganz anderen Problemen befaßten. Ihre Brust schmückte nicht die unschuldsvolle Lilie, sondern der rote Stern, sie kümmerten sich weniger um alte Leute auf der Straße, sondern schlugen nach allem, was ihnen feindlich erschien. Sie beschäftigten sich oft mit grotesken Feinden und Problemen.' So wurde jahrelang gestritten, ob ein kommunistischer Jüngling eine Krawatte tragen dürfe, ob es eines Kommunisten würdig sei, zu tanzen, ob die Liebe mehr sei als eine bloße physiologische Funktion.

Die ersten Grundlagen für die Entwicklung des Komsomol legte Lenin in seiner Rede vom 2. Oktober 1920 auf dem III. Allrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes. In dieser Rede verlangte Lenin von der kommunistischen Jugend vor allem zwei Dinge: erstens lernen, zweitens die kommunistische Gesellschaft aufbauen zu helfen. Der Verband zählte damals 400.000 Mitglieder. Wenn sie im Bürgerkrieg noch verhältnismäßig bescheiden auftritt, so sehen wir diese Jugend doch schon als einen entscheidenden Faktor im Kampf gegen die Religion, im Kampf um den Wiederaufbau der Wirtschaft, in der stalinistischen Bodenreform, das heißt in der

Organisation der Kolchosen und Sowchosen, und im Kampf gegen den bäuerlichen Konservativismus. So erleben wir es, daß eine aus der Opposition zum Pfadfindertum entstandene Jugendbewegung, welche vom Pfadfindertum so manches Äußere übernimmt, zu einem mächtigen und einsatzfähigen politischen Instrument der Kommunistischen Partei wird. Wir sehen den Komsomol bei der Durchführung der Fünfjahrespläne als eine entscheidende Kraft überall dort auftreten, wo es um Opfer und persönlichen Einsatz ging, und schließlich war im zweiten Weltkrieg der Komsomol die verläßlichste Kraft der Sowjets und das unerschöpfliche Partisanenreservcir. Aber auch nach dem Krieg war der Kosomol, der inzwischen schon Millionen zu seinen Mitgliedern zählte (seit der Revolution waren 45 Millionen Menschen in den Reihen dieser Jugendbewegung gestanden), in der Erschließung des Neulandes und bei der Schaffung neuer Wohnviertel tätig. Der Komsomol bleibt natürlich nach wie vor die Vorstufe zur Parteimitgliedschaft, eine der wichtigsten Voraussetzungen zum Erfolg im Leben eines Sowjetmenschen.

Zur Eröffnung des Kongresses sprach der Erste Sekretär des Zentralkomitees des Komsomol, S. P. P a w 1 o w, ein junger, gut aussehender Mann mit einem draufgängerischen Zug um die Lippen. Seiner Rede Sinn war es, die Jugend zu weiteren Taten aufzurufen und vor allem die Wachsamkeit gegenüber jeder Versumpfung zu schärfen, in erster Linie in der Landwirtschaft mehr Einsatzfreude zu zeigen, aber auch in der Industrie die Verschlampung zu bekämpfen, im geistigen Bereich (Schule, Ideologie, Theater, Kino) das Leben kritischer zu sehen. Symptomatisch für eine neue kritische Geisteshaltung mag sein, daß dabei ein Redner aus dem Dzerschinskij-Rayon des Kreises Zitomir zitiert wurde, der in seinen Vorträgen voll Autorität behauptet hatte, daß beim Sieg de? Kommunismus die Frauen zwölf Kleider, die Männer sieben Anzüge haben würden und daß der ArbeitsÄfr mir noch zwei Stunden dauern werde. Doch flJ&jjjfHgi, zige kritische-Frage habe ihn in Verlegenheit gebracht, nämlich ob es während dieser Zeit auch eine Mittagspause geben werde.

Pawlow definierte den Kommunismus als eine Gesellschaft von klugen, schönen (er meint damit wirklich gut aussehende) Menschen, voll Kraft und Freude an der Arbeit, und nicht einen Haufen von müßigen Nichtstuern. Im gleichen Atemzug richtet er aber scharfe Angriffe gegen die Geschmacklosigkeit der Plüschkultur der unbrauchbaren Ästhetik der alten Kaufhäuser, gegen die Kirche, besonders gegen iene kirchlichen Kreise, die eine Ähnlichkeit zwischen dem Programm der KP und der Lehre der Kirche von Liebe. Brüderlichkeit und Frieden sehen wollen. Gleichzeitig wird auch die Plage der Rowdies, der arbeitsscheuen Jugend vernichtend kritisiert.

Das Hauptereignis des ganzen Kongresses aber war natürlich die Rede des Ersten Sekretärs der KPdSU, N. S. Chruschtschow. Er hielt diese Rede wohl schon am 19. April, veröffentlicht wurde sie jedoch erst am 21. April.

Als erstes verlangte Chruschtschow die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der Wirtschaft um das Vier- bis Viereinhalbfache und in der Landwirtschaft um das Fünf- bis Sechsfache. Dann griff Chruschtschow die „Parasiten“ an, unter denen diejenigen zu verstehen sind, die zwar nichts arbeiten, aber trotzdem gut leben, Menschen, die von der Arbeit der anderen leben und von denen manche sogar plündern und morden. Aber Menschen, die einfach nichts tun, nennt Chruschtschow Diebe, die das benützen, was von anderen geschaffen wurde, kurz, die das Eigentum des Staates ohne Gegenleistung in Anspruch nehmen. Also, das Benützen oder Gebrauchen von Gegenständen und anderen Gütern ist Diebstahl.

Schließlich wandte sich Chruschtschow gegen die westliche Aggression. Er meint, daß heute wohl kaum ein vernünftiger Mensch an eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Ostblock denke. Heute ist aber Hauptwaffe der „Imperialisten“ (lies: des Westens), „die ideologische Diversion“, also eine geistige Waffe. Der Westen bemühe sich angestrengt, mit seiner Ideologie in die Köpfe der Jugend und nicht nur der Jugend einzudringen. Davor warnt Chruschtschow. Nehmen wir an, es ist tatsächlich so, daß der Westen seinen Existenzkampf mit dem Kommunismus auf die ideologische Ebene verlagert hat, welche übrigens die einzige reelle Ebene iss- denn Ideen können eben nicht mit Kanonen und KZ, wie unter Hitler, bekämpft werden, sondern wiederum nur mit Ideen. Nun kann man fragen, wenn Herr Chruschtschow der westlichen Welt den Wettkampf um die materiellen Werte vorgeschlagen hat und die westliche Welt diese Herausforderung angenommen hat, warum sollte diese selbe westliche Welt nicht in einen Wettkampf der Ideen mit der östlichen Welt treten und warum sollte denn der Parteisekretär diese Herausforderung nicht annehmen?

Die Rede Chruschtschows war auffallend kurz und konziliant und im wesentlichen ein Dank an die Jugend der Sowjetunion. Der Beobachter aber macht sich seine Gedanken, wenn er Chruschtschows Rede mit der Lenins vom 2. Oktober 1920 vergleicht, der da sagte: „Die Generation, deren Vertreter heute etwa 50 Jahre alt sind, kann nicht mehr damit rechnen, die kommunistische Gesellschaft zu erleben. Bis dahin wird diese Generation abgestorben sein. Aber die Generation, die jetzt 15 Jahre alt ist, die wird die kommunistische Gesellschaft erleben und selber diese Gesellschaft aufbauen.“

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