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Keine Zeit zum Lärmen

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Es dürfte interessieren, mit welchen recht originellen Vorbeugungsmaßnahmen Moskau etwaige Stu- dentenunnuhen zu unterbinden gedenkt. Konstante Kontrolle und lückenlose Beschäftigung durch das ganze Jahr waren die Leitgedanken, deren praktische Durchführung verhindern soll, daß vom Westen her die Rebellion der Jugend auf die Sowjetunion übengreifen kann.

Es war schon eine lange Tradition in der UdSSR, die ideologische Indoktrination vor den Sommerferien zu intensivieren, damit die Studenten „entsprechend gewappnet” die Ferien antreten. Das Chruschtschow-Regime übte einen Druck aus, damit die Jugend auf abgelegenen Rodungsgebieten, wie Kasachstan, „freiwillig” arbeitete. Im letzten Sommer hat man eine ganz neue Arbeitsordnung für die studierende Jugend eingeführt. Die Parteiführung hat mit dem Zentralkomitee des Komsomol einen recht original len Plan ausgearbeitet, damit je größere Gruppen während de: Ferien in der Industrie und ar öffentlichen Bauten beschäftigt werden. Auch der kollektivierten Landwirtschaft wurden zahlreiche Studenten als Hilfskräfte zugewiesen Die pädagogische und ideologische Indoktrinierung der Studentei mußte damit parallel intensivier werden.

Das „dritte Semester”

Neue Begriffe wurden eingeführt und zwar das „Arbeitssemester” (trudovoj semestr), oder das „dritte Semester” (tretji semestr), sowie die „Studentenstädte”. Der Staat und die Industrie ermöglichten die Einrichtung solcher „Studentenstädte”, indem sie Straßen bauten, Verkehrsmittel zur Verfügung stellten, Elektrizität lieferten, Wasserleitungen legten usw. Momentan sind viele solcher Lager nur Zeltstädte. Man bemüht sich aber, je früher ständige Studentensiedlungen aus Ziegelsteinen oder Holz zu bauen, die dann viele Jahre hindurch bewohnt werden können.

Der Kommissar der Allunion- Studenten - Konstruktion - Einheit gab in der Zeitschrift „Vestnik Vje- shej Skoly” zu, daß jetzt dreimal so viele Studenten, das heißt 270.000 an der Zahl, im Fernen Osten, in Mittelasien, in den nördlichen Regionen, in Sibirien und Kasachstan im Rahmen des neueingeführten „dritten Semesters” in sogenannten „Studentenstädten” eingesetzt waren. Bel der Beschäftigung der jungen Leute mußte möglicherweise ihre körperliche Struktur und Fachschulung in Betracht gezogen werden. Der Wert der von ihnen geleisteten Investitionen macht nicht weniger als 470 Millionen Rubel aus. Viele Projekte können nur unter den schwersten Bedingungen verwirklicht werden. Die gesellschaftliche und politische Erziehung wurde sorgfältig und detailliert geplant. Die Freizeiteinteilung der Studenten, die in der Industrie beschäftigt sind, sieht folgendermaßen aus:

8 Wochen „Freizeit”

1. Woche: Einrichtung der „Studentenstadt” und Angewöhnung an die neuen Lebensverhältnisse und Bedingungen;

2. Woche: Genannt „Woche der Freundschaft”, die Studenten übernehmen die Patenschaft über die Jungpionierlager der Gegend, bauen Sportplätze, eröffnen und leiten „Jugendcafes”.

3. Woche: „Förderung der revolutionären Traditionen”, in deren Rahmen werden Heldendenkmäler gereinigt, Soldatengräber gepflegt, Zusammenkünfte mit „Kriegs-” und „Arbeitshelden” veranstaltet.

4. Woche: „Woche des proletarischen Internationalismus”.

5. Woche: Reserviert für Kulturpropaganda, wissenschaftliche Vorträge und Weiterausbildung.

6. Woche: Vorwiegend mit literarischen und künstlerischen Programmen, Vorträgen und Arbeiten ausgefüllt.

7. Woche: Eine Zeitspanne, in welcher „dringende Projekte” durchgeführt und erledigt wenden müssen.

8. Woche: Die Zeit der Aufräumung und der Säuberung.

Parteifunktionäre haben in den vergangenen Wochen die Leitung der Komsomol-Organisationen überall und ohne Aufsehen übernommen. Man nannte diese Umwandlung „partijnoe jadro”, was man deutsch „Partei-Nuklearisierung” nennen müßte. Heute sind mehr als 60 Prozent der Mitglieder der regionalen Komsomolkomitees in der ganzen Sowjetunion Parteimitglieder oder mindestens Kandidaten. Diese Reform geht im übrigen schon auf das Jahr 1967 zurück, als zum Beispiel in Kasachstan 2729 KP-Mitglieder als Komsomol-Sekretäre tätig waren (1965: 1960) und 10.000 KP-Mitglieder für Jugendarbeit herangezogen waren. In diesem Sommer wurde der Slogan herausgegeben: „Der Komsomol soll zum Reservekader der Partei werden!” Komischerweise ist derzeit unter der Oberfläche eine entgegengesetzte Bewegung in Gang, die man kaum erwartet hätte: die Partei ist in Wirklichkeit zum Reservekader des Komsomol geworden

Anschwellen der Kollektivität

Es ist unverkennbar, daß die Partei mit den erwähnten präventiven Maßnahmen das Übengreifen der westlichen Studentenunruhen im voraus verhindern möchte. Starke soziale und wirtschaftliche Probleme wirken mit und man ist bemüht, zwischen der Arbeiterschaft und den Studenten rechtzeitig eine gangbare Brücke zu errichten, die „drittes Semester” heißt.

Die Parteibürokratie ist mit der sozialen Abstammung der Studenten unzufrieden. Der bekannte Erste Sekretär der KP in Tscheljabinsk. Rodionow, forderte kürzlich in der Prawda, daß mehr Arbeiterkinder auf die Universitäten und untere Handelsschulen geschickt werden sollen.

Die wichtigste Initiative war jedoch in Richtung der ideologischen Beeinflussung und ununterbrochenen geistigen Beschäftigung der Studenten, daß kürzlich alle jüngeren Universitätsprofessoren und Hochschullehrer aufgefordert worden sind, den Sommer während des „Arbeitssemesters” mit ihren Studenten zusammen zu verleben. Sie sollten in den „Studentenstädten” einerseits für die ideologische Indoktrinierung, andererseits für die Überwachung der Arbeit der Jungen Sorge tragen. Von einer überwältigenden Begeisterung konnte weder bei den Professoren noch bei den Studenten berichtet werden. Niemand freut sich darüber, wenn der Spielraum für die Individualität zugunsten der Kollektivität immer mehr eingeschränkt wird.

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