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Sieg der Neuen Linken

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Als die Neue Linke an die Macht gekommen war, wollten die Sieger den Sieg feiern. Doch ergab sich keine spontane Kundgebung, da ja die spontane Kundgebung ein Teil des Kampfes gewesen war. Das Stören dessen, was geschah, lag ihnen im Blut; aber man konnte nicht zur Weihe des Sieges besonders feierlich einen hergebrachten Ablauf stören, wenn diese Abläufe ja unwiderruflich ins Stocken gekommen waren und der Sieg eben in diesem Stocken bestand. Konnte man feiern, indem man einen Zustand aufleben ließ, den aufzulösen und abzulösen man angetreten war? Alle öffentlichen Gebäude, alle höheren und mittleren und unteren Schulen und Lehranstalten, den Sitz der militärischen Stäbe sowie alle Kasernen, die Redaktionen und Verlage, die Sender, die Museen und Galerien, die Theater und Konzertsäle hatte man besetzt, geräumt, wieder besetzt, wieder geräumt, beschädigt und desorganisiert. Man hatte in den Kirchen mit den Pfarrern und in den Theatern mit den Schauspielern, in Konzerten mit den Solisten und Dirigenten diskutiert, auf den Fußballplätzen mit den Linienrichtern, in den Postämtern mit den Schalterbeamten und in den Hotels mit den Stubenmädchen. Gegen die Mittagsstunde war den im Hauptquartier der Bewegung Anwesenden plötzlich bewußt geworden, daß die Macht im Begriff war, auf sie überzugehen. Es war einfach ein gewisser Sättigungsgrad erreicht. Die einen waren müde und die anderen waren müde, und das bedeutete, daß die anderen die einen ablösen.

Die Herren aus den Ministerien hatten in ihren von Demonstranten besetzten Amtsgebäuden darin sich singende, tanzende und trinkende Gruppen tummelten, einfach aufgehört, zu amtieren. Einige gingen nach Hause, einige durchstreiften schlendernd die Stadt. Und ähnlich vollzog es sich, wie auf Kommando, im Rathaus, in den Redaktionen, in den Kasernen, überall dort, wo die Besetzung sich in Permanenz erklärt, wo das Anti-Etablish-ment sich etabliert hatte. *

Viele, welche solcherart schlendernd die Stadt durchstreiften, kamen auf den Einfall, die Lehranstalten aufzusuchen, welche sie seinerzeit besucht hatten. Wenn sie auch sonst mit der Neuen Linken nicht sympathisiert hatten: was da dem Lehrbetrieb zugefügt wurde, traf jeden und jede an einem empfindlichen Nerv. Wir alle sind ja, was immer wir sein mögen, ehemalige Schüler. Und sofern wir nicht Lehrer geworden sind, beneiden wir unsere glücklicheren Nachfolger in Klassenzimmern, Hörsälen und Instituten. Wir haben uns in Lausbubenstreichen unzureichend Luft gemacht — glückliche Jugend, die wagt, wovon wir nur geträumt haben, und die dafür nicht Karzer, sondern Leitartikel und Parlamentsdebatten bekommt. So dachte man — und: Die Chinesen scheinen kluge Leute zu sein. Sie setzen den Hebel dort an, wo tatsächlich ein wunder Punkt ist. Der Fabrikant ist heute keine zugkräftige Zielscheibe mehr für Wut und Rache, sogar die Generalität ist ziviler geworden, aber gegen die Schulmeister auf die Barrikaden zu gehen, das hat eine Zukunft!

Viele schlenderten also an jenem Mittag dorthin, wo sich die Schüler zu Herren der Lehranstalten gemacht hatten und wo sie selbst einst zu leiden gehabt hatten. Sie fanden dort Chaos und Anarchie, Rebellion und Aggression, und kaum einer konnte sich der in ihm aufsteigenden Genugtuung,Befriedigung, Befreiung erwehren, wenn er auch Mißhandlungen und grobe Sachbeschädigungen als übertrieben ablehnte.

Eine Welt von ehemaligen Schülern, denen man mindestens acht, oft aber zehn, vierzehn, achtzehn Lebensjahr verödet hatte, sah sich nun mit den Schauplätzen der Frustration konfrontiert. Unter den Schlendernden waren auch Lehrer und Professoren: jene vernünftige, Urbane Minderheit, die dem Beruf des Pädagogen Ehre gemacht hatte. Auch sie schlössen sich Wicht aus, als die Spaziergänger da und dort, an den Aktionen Anteil nahmen. Noch war diese und jene Fensterscheibe intakt, noch war da und dort an einer Wand etwas Platz für unflätige Inschriften, noch gab es Konferenzzimmer, Kanzleien, Quästuren, Klassenzimmer, die erst fragmentarisch demoliert waren,

So war also in den und um die Lehranstalten noch etliche Bewegung, sonst aber verbreitete sich in der Hauptstadt (und, wie man später erfuhr, auch in den Städten des ganzen Landes) Ruhe. Der Protest stieß ins Leere. Die Provokation war alltäglich geworden, also nicht mehr provokant. *

Man hatte es sich längst abgewöhnt, Radio zu hören oder fernzusehen, denn die Neue Linke hatte die Sender und Studios besetzt und ließ ausschließlich Programme mit Protestsongs senden, die seit Tagen immer wieder abliefen, so daß jeder sie schon kannte. Man drehte nicht mehr auf, und so nahm man es auch kaum zur Kenntnis, daß Hörfunk und Fernsehen nicht mehr regulär funktionierten. Ob dies auf Sabotageakte der Rundfunkleute oder der Rebellen zurückzuführen war, fragte niemand und hätte auch niemand zu sagen gewußt.

Die Zeitungen erschienen längst nicht mehr, da man alle aus den Druckereien kommenden Auflagen in den vorangegangenen Nächten verbrannt hatte. Soldaten und Polizisten hatten sich angesichts der Lage und mangels deutlicher Instruktionen in den Kasernen und Kommissariaten ihrer Uniformen entledigt und hielten sich in ihren Wohnungen auf. Hatten sie außerhalb ihrer Wohnorte Dienst gemacht, versuchten sie, ihre Heimat zu erreichen. Die fahrplanmäßigen Züge waren jedoch längst an jenen Bahnhöfen zum Stillstand gekommen, wo Stoßtrupps der Neuen Linken die Lokomotivführer, Schaffner und Weichensteller zu Diskussionen über die gesellschaftliche Funktion des Eisenbahnwesens gezwungen hatten. Der Telephonverkehr war zusammengebrochen, da die Mittelschüler, denen die Besetzung der Zentralen aufgetragen worden war, dort technische Scherze getrieben hatten, bis so viel Schaden angerichtet worden war, daß er das Herstellen einer Verbindung zum Glücksspiel machte. Auch war das Netz der Fernschreiber gestört und die konventionelle Telegra-phie erheblich beeinträchtigt. Die Sieger konnten ihren Sieg mehr ahnen und erspüren als konstatieren. Denn sie hatten die Mittel beschädigt, deren sie nun zum Zweck der Information be-“ dürft hätten.

Die Gesellschaft hatte sich aufgelöst. Am nächsten Tag sollte der Aufbau der neuen Gesellschaft beginnen. Der Rest des Tages mußte in Würde gestaltet sein, den Lehr- und Lesebüchern kommender Zeiten gemäß. Man hätte gern in den künftigen Lehrbüchern nachgeschlagen, was darin über den heutigen Abend zu lesen war.

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