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Das Korrektiv zur Macht

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Seit 10 Jahren sind es vor allem Wissenschaftler und Angehörige der technischen Intelligenz, die sich gegen die Herrschaftsmethoden des sowjetischen Establishments auflehnen. Daraus auf einen Zerfall des Systems schließen zu wollen, wäre allerdings völlig verfehlt. Zwar sind zum Beispiel auch religiöse, nationale und sogar faschistische Gruppierungen erkennbar. Die wesentlichsten Aktivitäten innerhalb der sowjetischen Opposition gehen jedoch von marxistischen und leninistischen Organisationen und von der demokratischen Bewegung aus, deren Repräsentant der Kernphysiker A. D. Sacharow ist. Hier sind tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Gang gekommen.

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Seit 10 Jahren sind es vor allem Wissenschaftler und Angehörige der technischen Intelligenz, die sich gegen die Herrschaftsmethoden des sowjetischen Establishments auflehnen. Daraus auf einen Zerfall des Systems schließen zu wollen, wäre allerdings völlig verfehlt. Zwar sind zum Beispiel auch religiöse, nationale und sogar faschistische Gruppierungen erkennbar. Die wesentlichsten Aktivitäten innerhalb der sowjetischen Opposition gehen jedoch von marxistischen und leninistischen Organisationen und von der demokratischen Bewegung aus, deren Repräsentant der Kernphysiker A. D. Sacharow ist. Hier sind tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Gang gekommen.

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Da es sich um illegale Organisationen handelt, ist es schwierig, sie zu klassifizieren, weil man kaum jemals exakt sagen kann, ob es sich jeweils nur um eine relativ lose Gruppe oder einen Diskussionszirkel mit Tendenz zu festeren Organisationsformen oder um eine tatsächlich bestehende Organisation handelt. Ungeachtet dessen haben in den letzten zehn Jahren verschiedene Gruppen bewußt den Weg in die Illegalität gewählt und sich zum Teil zu Kampfmethoden entschlossen, die bis zum bewaffneten Widerstand reichen.

Zunächst einige Worte über üle-gale bzw. marxistische Kreise, die in den sechziger Jahren entstanden und sich betätigen. Auffallend hart reagierten Parteibürokratie und Sicherheitsorgane gegen Gruppen, die sich aus Kommunisten und Komsomolzen rekrutierten und ihre Tätigkeit vor allem in Partei und Komsomol entfalteten. Es handelte sich dabei um Gruppen, die allein schon auf Grund ihrer Überzeugung keineswegs die Grundlagen des Sozialismus und des Sowjetstaats bedrohen, sondern sich ganz im Gegenteil voll und ganz zu Prinzipien bekennen, die „aus Lenins Lehre“ folgen. Sie rekrutieren sich fast ausschließlich aus kritischen Angehörigen der jüngeren Generation; deren Hauptanliegen sich in einigen Punkten zusammenfassen lassen: der Stalinismus läßt sich nicht auf die Persönlichkeit Stalins reduzieren, sondern war eine gesellschaftliche Entwicklungsphase mit tiefreichenden Deformationen; unter Chruschtschow kam es zu keiner Entstalinisierung des sowjetischen Systems, der Terror wurde zwar abgemildert, doch sind die wichtigsten Institutionen und Herrschaftsmethoden beibehalten worden; Voraussetzung für die weitere Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion ist eine Demokratisierung des Systems, zu der vor allem ein ständiger Austausch der Funktionäre bis zu den höchsten Posten hinauf gehört; keine Manipulation der Wahlen durch die Parteibürokratie, sondern echte Bestimmung durch die jeweiligen Wähler und völlige Umkehrung der Abhängigkeitsverhältnisse — nicht mehr das Volk soll von den Funktionären abhängig sein, sondern diese vom Volk. Diese — heute schon zerschlagenen — marxistischen bzw. kommunistischen Gruppen standen deutlich unter dem Einfluß der Reformgedanken in der Tschechoslowakei, mit offener Sympathie für den jugoslawischen Weg zum Sozialismus. Sicher kommt es der Wahrheit am nächsten, diese Gruppen zusammenfassend als Anhänger eines „humanistischen Marxismus“ zu bezeichnen. Gerade diese Gruppen sind es, die von der Geheimpolizei am schärfsten verfolgt und am radikalsten zerschlagen wurden.

Eine der bedeutendsten oppositionellen Gruppen ist die „Bewegung der Demokraten Rußlands, der Ukraine und des Baltikums“. Es handelt sich hier um keine Organisation, schon gar nicht um eine illegale, doch nimmt diese Bewegung in der sowjetischen außerparteilichen Opposition in jeder Hinsicht eine besondere Stelle ein. Während ein Flügel der Demokraten ganz bewußt auf dem Boden der Legalität steht, tendiert ein zweiter dahin, sich durch eine stark strukturierte Tätigkeit und Organisation abzusondern. Dieses Gebilde ist vor allem durch ein fest umrissenes Programm charakterisiert, dessen Hauptpunkt ein anderes Gesellschaftsmodell als das sowjetische ist. Die Demokraten versuchen zwar, die Grenze zur Illegalität nicht zu überschreiten, doch ist dies unter den herrschenden Umständen praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Von allen Gruppen entfalten die Demokraten die regste Aktivität.

Samisdat veröffentlichte neben ihren programmatischen Dokumenten auch verschiedene Studien, die eine liberal-demokratische Interpretation der sowjetischen Wirklichkeit versuchen.

Die nationale Opposition hat zwei Gesichter. Sie versucht einmal auf rein legaler Basis Verbesserungen zu erzielen, zum anderen aber auch durch Untergrundorganisationen ihre Ziele durchzusetzen. Die nationalen Spannungen haben in den sechziger Jahren stark zugenommen. Im Zusammenhang mit dem Kampf der Krimtataren um ihre nationale Autonomie kam es zu beträchtlichen Unruhen in Mittelasien. Unter den Häftlingen der Besserungs-Arbeits-Kolonien sind sehr viele Usbeken, die unter der Parole „Russen raus aus Usbekistan!“ im Mai 1969 demonstriert hatten. Fast gleichzeitig veranstalteten in Usbekistan lebende Tadschiken Massendemonstrationen, weil sie sich weigerten, in ihre Pässe die Nationalität „Usbeke“' eintragen zu lassen, eine Demonstration, die keineswegs gegen die Usbeken gerichtet war, sondern gegen die „russische Verwaltung“. Während die Krimtataren eine geradezu großartige Organisation aufgebaut haben, scheint dies bei den Völkern Mittelasiens nicht der Fall zu sein. Die spontanen Massenaktionen von 1969 waren nur möglich, weil sich Intellektuelle an ihre Spitze stellten.

Illegale Organisationen mit ausgeprägt nationalistischem Charakter oder solche, die gewaltsame Methoden propagieren, werden von der Geheimpolizei mit der gleichen Härte bekämpft, wie die Opposition aus den Reihen von Partei und Komsomol. Solche organisierten Gruppen gab es in den sechziger Jahren in den baltischen Republiken, in der Moldau, in der Ukraine und in den transkaukasischen Republiken. Es ist nicht leicht, Näheres über die Programme dieser Organisationen zu sagen, denn es fehlen Dokumente, doch sind sie sicher nicht alle unter dem Terminus „nationalistisch“ zu subsumieren. Die „Baltische Föderation“ trat für einen übernationalen Staatenbund der drei baltischen Republiken ein. Moldauische Gruppen plädierten für einen Anschluß an Rumänien. Die in Armenien liquidierten Gruppen wie „Im Namen des Vaterlandes“ verfochten höchstwahrscheinlich nur ein sehr bescheidenes Programm, sie setzten sich für mehr Rechte und Möglichkeiten für die nationale Kultur und Sprache, für eine Eindämmung der Russifizierung und andere „kleine Schritte“ ein.

Ein absolut neues Phänomen in der Geschichte der Sowjetunion ist die Menschenrechtsbewegung. Angehörige verschiedener sozialer Schichten, vor allem aber Intellektuelle, berufen sich auf die in der Verfassung der USSR wie in den Gesetzen garantierten Menschenrechte und fordern, daß sie nicht länger nur auf dem Papier stehen sollen. Diese Bewegung war zunächst nur eine Reaktion auf den Machtmißbrauch der Herrschenden, auf die Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit und die gesetzwidrigen Praktiken des Geheimdienstes KGB. Aber bereits diese Proteste stellten ein Politikum dar, denn die Bewegung versuchte auf diese Weise, die nach dem XX. Parteitag 1956 erzielten Errungenschaften zu erhalten und zu erweitern, auch wenn diese nur zögernd und inkonsequent gewährt worden waren.

Ihre Parole hieß: Jeglicher Re-stalinisierung, besonders in der Rechtspflege, Widerstand entgegensetzen und mit allen Mitteln darauf hinwirken, daß die Sowjetunion zu einem modernen Rechtsstaat wird. Nachdem jedoch ihren Versuchen, Angeklagten zu Hilfe zu kommen, von offizieller Seite mit der Behauptung begegnet wurde, die Strafverfolgung vollziehe sich völlig im Einklang mit den sowjetischen Gesetzen, brach für die Bewegung Mitte der sechziger Jahre ein klar erkennbarer neuer Abschnitt an. Es ging nicht mehr allein darum, auf die Befolgung der geltenden Gesetze zu achten, sondern auch um de -such, dehnbare Straftatbestände wie „antisowjetische Propaganda“ oder „Nichtstun“ aus den Gesetzen zu entfernen und menschenrechtswidrige Gesetze ganz zu beseitigen.

Von Anfang an berief sich die Bewegung auf die 1948 von der UNO beschlossene „Internationale Charta der Menschenrechte“. Als im Dezember 1968 anläßlich des zwanzigsten Jahrestages der Charta in aller Welt das Jahr der Menschenrechte proklamiert wurde, unternahm die Bewegung in der Sowjetunion eine besonders intensive Aufklärungsaktion; so wurde zum Beispiel der Text der Charta durch Samisdat in hoher Auflage im ganzen Land verbreitet. Seitdem hat die Propagierung der auch von der Sowjetunion unterzeichneten Menschenrechtscharta viel zur Stärkung des Rechts- beziehungsweise Unrechtsbewußtseins in der sowjetischen Bevölkerung beigetragen. Eine regelrechte Flut von Gesuchen um Prüfung bzw. Intervention ergoß sich direkt über die Menschenrechtskommission. Sie stammen von den unterschiedlichsten Gruppen, z. B. von religiösen Gemeinschaften, von den Krimtataren oder außwanderungswilligen Juden.

General a. D. Pjotr Grigorenko versuchte, eine echte Menschenrechtsorganisation zu gründen. Nach seiner Verhaftung bildete sich 1969 eine sogenannte „Initiativgruppe zum Schutz der Menschenrechte“. Im Mai 1969 rief die Initiativgruppe die UNO-Menschenrechtskommission an und führte Klage, daß in der Sowjetunion Bürger auf Grund ihrer Überzeugung Repressalien ausgesetzt würden und daß den Juden das Recht auf Auswanderung nach Israel verweigert werde, sie protestierte gegen die politischen Prozesse, in denen Krimtataren und Bewohner der baltischen Republiken wie auch der Ukraine vor Gericht standen. Daraufhin entschlossen sich Geheimpolizei und Staatsanwaltschaft, gegen die Gruppe vorzugehen, die wichtigsten Mitglieder wurden verhaftet und verurteilt.

Allerdings gelang es dem Regime auch durch diese Maßnahmen nicht, die weitere Tätigkeit der Menschenrechtsbewegung zu verhindern.

Ende 1970 begann mit der Gründung des „Menschenrechtskomitees in der USSR“ eine neue Phase der Menschenrechtsbewegung. Diesem Komitee gehörten die Physiker A. D. Sacharow, A. N. Twerdochle-bov und W. N. Tschalidse an. Zu Experten wurden A. S. Esenin-Wolpin und D. I. Zukerman bestellt, zu Korrespondenten ehrenhalber wurden die Schriftsteller A. A. Ga-litsch und A. I. Solschenizyn ernannt (Tschalidse, Esenin-Wolpin und Zukerman befinden sich nicht mehr in der Sowjetunion, sondern im westlichen Ausland).

In einer ersten Erklärung hieß es, das Menschenrechtskomitee sei eine schöpferische Vereinigung, die nach den geltenden sowjetischen Gesetzen und nach den Prinzipien und Statuten des Komitees tätig sei. Weiter wird darin eine „beratende Mitarbeit bei Organen der Staatsmacht zur Schaffung und Anwendung der Menschenrechtsgarantien“ ebenso als Ziel genannt wie die „schöpferische Hilfe für jene, die konstruktiv die theoretischen Aspekte des Menschenrechtsproblems und dessen Spezifik in einer sozialistischen Gesellschaft erforschen“, und schließlich „die IJechtsaufklärung, vor allem die Verbreitung von Dokumenten über die Menschenrechte im Völkerrecht und im sowjetischen Recht“.

Die Menschenrechtsbewegung unterscheidet sich deutlich von verschiedenen Gruppen mit rein politischen Zielen, sie hat aber große Bedeutung für die sowjetische Rechtspflege gewonnen, indem sie das Bewußtsein für Recht und Unrecht in der Bevölkerung schärfte und durch ihre internationalen Vorstöße die sowjetische Praxis gegenüber politisch Verfolgten günstig beeinflussen konnte. Professor Sacharow wurde zu einem Symbol, ja zur Verkörperung der Hoffnung für die Opfer des Unrechts. Hier meldete sich von selten der Gesellschaft deutlich ein Korrektiv zu den herrschenden Machtorganen zu Wort, dessen Verbesserungsvorschläge frei von jeglicher Ideologie, sachlich und wohlfundiert sind.

Während die Menschenrechtsbewegung vor allem gegen sämtliche physischen oder juridischen Formen konkreter Unterdrückung protestiert — Alexander Ginsburg gab zum Beispiel ein Weißbuch über den Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel heraus, Pawel Litwinow, der Enkel des früheren sowjetischen Außenministers, veröffentlichte ein Weißbuch über den Prozeß gegen Ginsburg, Galanskow, Laschkowa und Dobrowolskij —, versucht die demokratische Bewegung eine Wiederbelebung und schöpferische Weiterentwicklung der sowjetischen Verfassung durchzuführen.

Die Demokraten haben' 1969 ein umfangreiches „Programm der demokratischen Bewegung der Sowjetunion“ herausgebracht, das im Samisdat verbreitet wurde und auch in den Westen gelangte. Dieses Programm, das 35 Druckseiten umfaßt, enthält die Stellungnahmen der Demokraten zu allen wichtigen Fragen der Gesellschafts-, Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik.

Gleichberechtigung und Chancengleichheit aller Staatsbürger, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationalitäten sowie eine Dreiteilung des Eigentums in Staatseigentum, Kollektiveigentum und Privateigentum. 1970 haben die Demokraten mit einem weiteren programmatischen Dokument Aufsehen erregt. Samisdat veröffentlichte ein „Memorandum an den Obersten Sowjet über die illegale Machtergreifung durch die Führung der KPdSU und deren verfassungswidrige Tätigkeit“.

Es trägt das Datum vom 5. Dezember 1970. Die Autoren analysieren bis ins Detail jeden einzelnen Artikel der heute geltenden Verfassung. Das Memorandum gliedert sich wie die Verfassung in 13 Hauptkapitel und 146 Artikel. Samisdat fügte dem Dokument eine Abschrift der geltenden Verfassung mit den jüngsten Veränderungen und Ergänzungen nach dem Stand von 1970 bei.

In der Präambel des Memorandums bekennen sich die Demokraten „zum Prinzip der friedlichen evolutionären Demokratisierung der gesellschaftlichen Beziehungen im Lande“. Sie forderten vom Obersten Sowjet eine öffentliche Diskussion ihres Dokumentes und die Bildung einer Kommission, die die verfassungswidrige Tätigkeit der Parteiführung untersuchen soll.

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