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„Die größte Demokratie der Welt“

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Die Abfassung der Konstitution des gewaltigen sozialistischen Vielvölkerstaates wird Stalin zugeschrieben. Die kommunistische Presse hat den Jahrestag der Bestätigung — 5. Dezember 1936 — gebührend in Erinnerung gebracht, stets mit dem Hinweis, sie sei die demokratischeste Verfassung der ganzen Welt.

Und in der Tat, wer die äußerst knappen und prägnanten Artikel dieser Verfassung zum erstenmal liest und ihre Bestimmungen auf österreichische Verhältnisse überträgt, der kann nur staunen über die Freizügigkeit, mit der den Sowjetbürgern und Sowjetvölkern alle demokratischen Freiheiten eingeräumt werden, kann nur staunen über die wahrhaft demokratische Form der Verwaltung und Gerichtsbarkeit, deren Organe ohne Ausnahme durch freie und geheime Wahl bestimmt werden. Er wird erstaunt sein, wieviel persönliche Freiheit trotz allgemeiner Arbeitspflicht — diese Pflicht ist eigenartigerweise nicht im 10. Kapitel „Rechte und Pflichten der Bürger“, sondern im Artikel 12 festgehalten — noch bleibt, auch wenn Grund und Boden und alle Produktionsmittel verstaatlicht sind, er staunt, wieviel Bewegungsfreiheit die Sowjetvölker in ihren Unionsrepubliken und auch in den autonomen Republiken der Russischen Föderalistischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Rahmen der mächtigen Staatsmacht Sowjetunion noch haben.

Ja, diese mächtige Staatsmacht Sowjetunion bezeichnet sich in der Verfassung (Artikel 13) ausdrücklich als freiwillige Vereinigung der gleichberechtigten Sowjetrepubliken. Die Souveränität der Unionsrepubliken ist nur auf den in den 23 Punkten des Artikels 14 aufgezählten Gebieten der Verwaltung eingeschränkt. Das Recht, aus der Union der sozialistischen Sowjetrepublik auszutreten, das Recht, sich selbst Gesetze zu geben und eigene Organe der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit zu haben, ist allen Republiken zuerkannt. Das höchste Organ der Staatsmacht ist der alle vier Jahre neugewählte „Oberste Sowjet“ der UdSSR, bestehend aus dem Sowjet der Union und dem Sowjet der Nationalitäten, der aus seiner Mitte das Präsidium des Obersten Sowjets wählt und die Regierung ernennt, die ihm beide untergeordnet sind. Die obersten Organe der Republiken sind analog gebildete Körperschaften. So geht nach der Verfassung alle Macht direkt vom Volke aus, nicht etwa von der Partei der Bolschewiken, die im Verfassungstext nur im Artikel 126 und nur als Beispiel einer Vereinigung angeführt ist, der ein Staatsbürger so wie jeder anderen Vereinigung beitreten kann. Auch die Wahllisten werden ja nicht von der Partei, sondern vom „Block der Kommunisten mit den Parteilosen“ erstellt.

Wer aber mit dem Auge des Juristen nicht nur die Bestimmungen über die Rechte der Bürger, sondern auch jene über die Organisation der Gesetzgebung und Verwaltung sucht, der muß mit Befremden feststellen, daß in Wahrheit die gesetzgebende Gewalt nicht beim Obersten Sowjet, sondern nur bei seinem Präsidium liegt, das durch einfachen Beschluß seiner 42 Mitglieder schon bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Häusern den Obersten Sowjet selbst auflösen, die Verfügun gen und die Erlässe der Regierung aufheben und die Gesetze nach seinem Gutdünken auslegen kann. Tatsächlich kann aus den Sitzungsberichten des nur zweimal im Jahr für kurze Zeit zusammentretenden Obersten Sowjets ersehen werden, daß Änderungen der Gesetze, ja selbst der Verfassung vom Präsidium vorgenommen werden. Über die Anerkennung dieser oft einschneidenden Änderungen wird stets in einer der letzten Sitzungen des Obersten Sowjets auf Antrag des Sekretärs des Präsidiums en bloc abgestimmt, wodurch diese Verfügungen erst verfassungsmäßig bestätigt werden, obwohl sie praktisch längst durchgeführt sind.

Noch deutlicher wird die Verfassung dem Augenzeugen der Wirklichkeit, der Gelegenheit hatte, die zivilen Verhältnisse zu sehen, und der die sowjetischen Berichte richtig zu lesen vermag. Ihm eröffnet sich folgendes Tatsachenbild: Artikel 17 und 18 garantieren den Republiken der Union das Recht des freien Austrittes aus der UdSSR und verbieten eine Gebietsveränderung ohne ihre Zustimmung. Aber die ganze autonome Republik der Krimtataren wie auch die der Wolgadeutschen wurden durch ein einfaches Dekret aufgelöst, Hunderttausende von Sowjetbürgern wurden durch einfachen Beschluß des Präsidiums des Obersten Sowjets in eine völlig unkultivierte Gegend umgesiedelt. Diese Auflösung von autonomen Republiken wurde vom Obersten Sowjet einstimmig gutgeheißen und verfassungsmäßig bestätigt, ohne daß nach der Verfassung die jeder autonomen Republik zustehenden elf Abgeordneten im Sowjet der Nationalitäten ihre Stimme hätten erheben können. Artikel 119 verankert das Recht auf Erholung durch jährlichen bezahlten Urlaub und Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf sieben Stunden. Aber seit dem Krieg ist die achtstündige Arbeitszeit in den meisten Betrieben beibehalten worden und wird durch „freiwilligen“ Wettbewerb, „Stachanow-Wachen“ und Samstagnachtschichten weiter veria n g e r t. Artikel 121 garantiert kostenloses Studium einschließlich Hochschulstudium. Aber schon seit vielen Jahren muß, wer nicht ein Stipendium erhält, von der achten Schulklasse an Schulgeld zahlen. Artikel 123 garantiert die völlige Gleichheit aller Bürger und bestraft jede direkte oder indirekte Einschränkung dieser Gleichheit. Aber es gibt doch verschiedene Klassen der Lebenshaltung, zum Beispiel gibt es besondere Kaufläden für Ärzte und noch andere für Wissenschaftler und Künstler, in denen ein Arbeiter nichts erhält; der Sohn des Kolchosenbauern kann sich nicht ohne weiteres andere Arbeit suchen; er wird vielmehr, in der Regel, ohne gefragt zu werden, in die Liste der Artelmitglieder eingetragen, obwohl gesetzlich die Mitgliedschaft erst durch Ansuchen um Aufnahme begründet wird. Artikel 124 garantiert das Recht religiöser Kulte. Aber es werden Kirchen behördlich gesperrt und Kultgegenstände beschlagnahmt. Artikel 125 garantiert die Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlungen und der Demonstrationen. Aber Literatur und Wissenschaft werden von „reaktionären“ Ideen und Menschen „gesäubert“, und wer auf einer ohnehin von der Obrigkeit veranstalteten Demonstration zum Beispiel zum Jahrestag der Oktoberrevolution — nur ein Plakat mit sich führt, dessen Text von den amtlichen „losungi“ des Zentralkomitees der Partei abweicht, wird bestraft.

So mag es nicht unberechtigt erscheinen,

wenn die glänzenden Lobpreisungen der Verfassung mit Zweifel aufgenommen werden und ein Beweis dafür verlangt wird, daß die Begeisterung für diese Verfassung nicht nur Propaganda für das Ausland ist.

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