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Kein Gerichtshof kann bei Verletzung angerufen werden

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Die Ausführungen von Herrn Viktor Bojew gehen von dem Wortlaut des Entwurfes einer neuen Sowjetverfassung aus, der teilweise - aber nur teilweise - den Eindruck erweckt, daß es sich um eine Verfassung handle, die auch jemand in einem Staat freiheitlicher Demokratie wie Österreich akzeptieren gönnte. Gegenüber anderen Verfassungen kommunistischer Staaten sind gewiß unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte positivere Beurteilungen möglich, so gegenüber der noch relativ neuen Verfassung der VR China, die aber ähnliche menschenrechtliche Artikel enthält wie die neue Sowjetverfassung, oder der ganz neuen albanischen Verfassung, die noch die in der UdSSR jetzt im großen und ganzen überwundene These von der Diktatur des Proletariats (in der Präambel) und die Pflicht der Volksgerichte zur Parteilichkeit (Art. 101 - 103) enthält* allerdings den Bürgern im Gegensatz zur UdSSR persönliches Grundeigentum (Wohnung) gewährleistet.

Das neue sowjetische Grundgesetz enthält übrigens in der Präambel sehr wohl auch eine Bezugnahme auf die Diktatur des Proletariats, die aber zu Ende geführt worden sei, und stellt fest, daß sich die Führungsrolle der Kommunistischen Partei, der „Vorhut des ganzen Volkes“, verstärkt habe. Damit ist aber bereits gesagt, was man von der neuen Verfassung zu erwarten hat: die von keinerlei Prinzipien der (freiheitlichen) Demokratie gemilderte Diktatur der Kommunistischen Partei. Gegenüber der Verfassung vom 5.12.1936 unterscheidet sich der jetzige Entwurf vor allem durch die umfangreiche Präambel, die nach sowjetischer Verfassungsrechtslehre ebenfalls unmittelbar anzuwendendes Verfassungsrecht ist, worin der Marxismus-Leninismus in seiner Extremform als das höchste Ziel der Sowjetstaates bezeichnet wird, nämlich „der Aufbau einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft“. Der „Mensch der kommunistischen Gesellschaft“ ist heranzubilden. Unter diesen Gesichtspunkten ist die neue Verfassung kein Fortschritt im Sinne der Ziele der von den Vereinten Nationen grundgelegten Menschenrechte, sondern im wesentlichen doch ein Rückschritt.

Es sei nicht übersehen, daß in der Sowjetunion die Nationalitäten nicht nur nach der bisherigen wie auch neuen Verfassung besonderen (kulturellen) Schutz genießen, sondern auch faktisch eine beachtliche kulturelle Eigenständigkeit haben, worüber die Fülle von Kunstmonographien aus den einzelnen Unionsrepubliken, autonomen Republiken und teilweise auch autonomen Gebieten und Kreisen (oblasti) Aufschluß gibt, wie auch aus den neuen Enzyklopädien von Unionsrepubüken (etwa der estnischen) solches zu entnehmen ist. Aber gerade Artikel 69 des Verfassungsentwurfes zeigt schon den Pferdefuß auf, wenn von der UdSSR als von einem „einheitlichen multinationalen Bundesstaat“ die Rede ist, der auf Grund der freien Selbstbestimmung „der Nationen“ entstanden sei. Und wenn es in Absatz 2 dieses Artikels heißt: „Die UdSSR symbolisiert die Einheit des sowjetischen Volkes als Staat und vereinigt alle Nationen und Nationalitäten zum Zweck des gemeinsamen Aufbaues des Kommu nismus“, so zeigt sich, daß weder die „Nationen“ noch die Volksgruppen (Nationalitäten) das Recht auf Selbstbestimmung haben, und zwar weder in der Extremform der Loslösung aus ■der Union, wie sie noch in der ersten Leninschen Sowjetverfassung von 1918 und auch noch, bereits etwas eingeschränkt, jener vom 31.1.1924 galt, noch in der heute auch von der Sowjetunion in der Schlußakte der KSZE von Helsinki anerkannten Form des „internen Selbstbestimmungsrechtes“.

Die in dem Verfassungsentwurf berufenen Selbstbestimmungsrechte müssen auch eine gewisse politische Selbstbestimmung mit enthalten, dies allein schon nach dem Wortlaut der auch von der UdSSR ratifizierten beiden UN-Menschenrechtspakte vom 16.12.1966. Daß nicht allen der fast 100 Völkerschaften der UdSSR Selbstbestimmungsrecht zugesprochen werden kann, mag richtig sein, da es auch ganz kleine Völkerschaften gibt. Aber mindestens den großen Nationalitäten müßte es nach der Verfassung zukommen.

Da sich nach dem Verfassungstext ergibt, daß sich alle diese Nationen und Völkerschaften in freier Entr Scheidung (freies Selbstbestimmungsrecht im Sinne der Selbstbestimmungsartikel der KSZE-Schlußakte) zum einheitlichen Bundesstaat zusammengeschlossen haben, wobei die einheitliche Sowjetnation oder „sozialistische Nation“ gemeint ist, kommt eine Loslösung der Unionsrepubliken, die im übrigen mit den Nationen (nacįje) gar nicht identisch sind, von der UdSSR gar nicht in Betracht Solche Versuche wären Hochverrat und was Völkern passiert, die auch nur im Verdacht stehen, allenfalls sich aus der Union lösen zu wollen, ist an den Beispielen der Wolgadeutschen, der Krimtataren und der Petschenegen sehr deutlich geworden.

Das erklärte Ziel der Großrussen - es gibt ja einen großrussischen Nationalismus, was angesichts der raschen Bevölkerungszunahme mohammedanischer Völkerschaften bei Rückgang der Russen von früher 54 auf 1977 nur noch 49 Prozent der Gesamtbevölkerung begreiflich ist - ist die Überwindung der Nationalitäten durch die Schaffung der „sowjetischen Nation“ oder der „sozialistischen Nation“. Man braucht dazu nur die neueste Sowjetliteratur anzusehen, wie das 1975 erschienene kleine Buch von N. I. Taras- senko über die einheitliche sowjetische Nation; aber auch das sonst sehr nationalitätenfreundliche Werk von W. I. Koslow, „Die Nationalitäten der UdSSR“, gibt Anklänge dazu, ganz abgesehen von den grundlegenden völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Werken (Korowin, Kaljushnaja usw.).

Daß die neue Verfassung, wie die alte, Menschenrechte anführt, steht fest Aber sie sind nicht justitiabel. Es gibt keinen Gerichtshof öffentlichen Rechts, der gegen ihre Verletzung angerufen werden könnte. Das einzige Mittel der Abhilfe ist die Petition, die aber konkret dem Petenten eher schadet als nützt, wie uns die Dissidenten berichten.

So mag manches zwar dem Buchstaben nach positiv zu beurteilen sein, im Endergebnis kommt es aber auf die Verfassungswirklichkeit an.

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