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Worthülsen ohne Inhalt

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Die Menschenrechte und Grundfreiheiten sind in der DDR-Verfassung besonders hervorgehoben und in Moskau wird die DDR-Verfassung nicht zuletzt aus diesem Grunde sehr gepriesen9. Auf den ersten Blick erscheinen die Grund- und Freiheitsrechte durchaus beachtlich, so zum Beispiel wenn die Pressefreiheit gewährleistet ist, das Post- und Telephongeheimnis, die Religionsfreiheit und so weiter. Man muß aber alle diese Bestimmungen im Zusammenhalt mit den verstreut im Text stehenden Einschränkungen (meist dem Gesetzesvorbehalt) und mit den Kautschukparagraphen sehen, denen zufolge (Art. 1.9) die „sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit“ das Gemeinschaftsleben zu bestimmen hat.

Mit insgesamt 108 Artikeln ist die neue DDR-Verfassung sehr kurz und knapp gehalten. Vergleicht man sie etwa mit der noch immer geltenden sowjetischen Verfassung von 1936, so fällt bei letzterer wohltuend die knappe, prägnante Formulierung auf, in welcher nichts von schwülstigen Phrasen und Programmen enthalten ist. Die neue jugoslawische Verfassung von 1963 ist sehr umfangreich, nicht zuletzt wegen der Einrichtung des föderalistischen Nationalitätenstaates, sie hält sich im großen und ganzen aber auch von Schwulst und Phrase fern. Die neue DDR-Verfassung hingegen10 besteht eigentlich nur aus Schwulst und Phrase, aus Programmen mit leeren Worten, richtiger: Worthülsen ohne Inhalt, wobei „demokratisch“, „sozialistisch“, „friedlich“, „gesamtgesellschaftlich“, „genossenschaftlich“ und ähnliche Worte sich ständig wiederholen, aber das Gegenteil dessen bedeuten, was sie etwa in Österreich bedeuten, ja sogar kaum mit dem in Beziehung zu setzen sind, was ihren Inhalt in Jugoslawien darstellt. Um zu zeigen, was für Phrasen dieses Parteiprogramm, genannt „Verfassung“, enthält, seien folgende herausgegriffen: „Westdeutscher Monopolkapitalismus“, „sozialistische Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung“, „Demokratie, Sozialismus und Völkerfreundschaft“ (Präambel); „Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei“ (Art. 1); „Das gesellschaftliche System des Sozialismus wird ständig vervollkommnet“ (Art. 2); „Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt“ (Art. 2, Abs. 3); „Die DDR sichert das Voranschreiten des Volkes zur sozialistischen Gemeinschaft allseitig gebildeter und harmonisch entwickelter Menschen“ (Art. 25); „Der Aufbau und die Tätigkeit der staatlichen Organe werden durch die… Aufgaben der Staatsmacht bestimmt“ (Art. 48) „Gesetze … werden im Gesetzblatt und anderweitig veröffentlicht“ (Art. 89).

Es mag sein, daß es richtiger gewesen ist, die nicht gehandhabte

Verfassung von 1949 auch formell außer Kraft zu setzen. Die neue Verfassung ist aber nur Phrase, praktisch unanwendbar (auch wenn sie in Art. 107 zum unmittelbar anzuwendenden Recht erklärt wird), das heißt, sie bedarf der Durchführungsgesetzgebung zu fast jedem einzelnen Artikel und ist für einen Juristen schlechterdings unbegreiflich. (Juristen wird es in Zukunft in der DDR freilich kaum mehr geben. Nach Art. 94 und Art. 95 sind die Richter keine ausgebildeten Juristen mehr, sondern werden aus Personen mit einem hohen Maß an Lebenserfahrung, an menschlicher Reife und Charakterfestigkeit unmittelbar durch die Bürger gewählt. Sie haben sich einer regelmäßigen Selbstkritik zu unterziehen, wie alle anderen Staatsorgane auch.)

Ulbricht ließ an der Universität Leipzig die Büsten von Sokrates und Cicero entfernen, weil es sich bei diesen um kapitalistische Reaktionäre gehandelt habe. Die neue Verfassung der DDR zeigt, daß man gewillt ist, alles zu verlassen, was in Europa von alters her unter „Recht“ verstanden wurde.

1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. V. 1949, DBGBl. Nr. 1.

1 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 7. 10. 1949, DDRGBl. I, S. 1.

3 Änderungsgesetz v. 12. 9: 1960, DDRGBl. I, S. 505.

4 Vgl. Siegfried Mampel, „Die volksdemokratische Ordnung in Mitteldeutschland“, 2. Aufl., Frankfurt M., (Metzner) 1966.

5 Rudolf Ar zin g er, „Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart“, Ost-Berlin, Staatsverlag der DDR, 1966; R. Arzinger W. Poeggel, „West-Berlin — selbständige politische Einheit, Ost-Berlin, 1965.

’ „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Dutschen Demokratischen Republik“ vom 20. 2. 1967, abgedruckt in „Neues Deutschland“, Ost- Berlin, v. 21. 2. 1967.

7 W. Ulbricht, „Die Verfassung des sozialistischen Staates deutscher Nation“, in „Neues Deutschland“, v. 1. 2. 1968; Protokoll des VII. Parteitages der SED, Ost- Berlin, 1967; Autorenkollektiv, „Grundprinzipien der sozialistischen Verfassung der DDR“, in „Staat und Recht“, Ost-Berlin, 1968, Heft 4.

8 Eberhard Poppe, „Der Verfassungsentwurf und die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger“, in „Staat und Recht“, 1968, H. 4 SS. 532 ff.

Y. S ib ir t s e v, „Une constitution socialiste“, in „La Vie Internationale“, Moskau (Verlag Znanie), 1968, Heft 3, S. 94.

10 Wortlaut der neuen DDR-Verfassung auch in Beilage „Berichte und Dokumente“ zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Nr. 81 v. 4. 4 1968, S. 17.

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