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Der umgestülpte Zuckerhut

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Die Völker Ostasiens haben schon einmal die Segnungen einer Koexistenz genossen. Die beiden der Existenz vorausgesetzten glückhaften Buchstaben stammten damals freilich aus dem Japanischen, sie hatten eine blumig-symbolische Bedeutung und sie verhießen den Nationen, über denen das Banner der aufgehenden Sonne wehte, herrliche Zeiten der Prosperität. Man weiß, wie das geendet hat. Die heute anbrechende Koexistenz, mit ihrer aus dem Lateinischen kommenden Vorsilbe und ihren amerikanisch-sowjetischen Ausblicken, zu Deutsch einfach und schlicht: das Zusammenleben oder auch das Miteinanderleben, noch vornehmer und wissenschaftlicher, die Symbiose, soll uns auf dem gesamten Erdenrund ein Paradies bescheren. Voraussetzung dazu ist freilich, daß man nicht, wie es ein zeitweise hochberühmter Eidgenosse meinte, miteinander rede — was ausgiebig geschehen ist —, sondern daß auch der gleiche Geist der Verständigung von oben bis unten allerorts wehe, wo er es will, und nicht nur dort, wo man es an höchster Stelle bei Begegnungen auf höchster Ebene für propagandamäßig angezeigt hält.

Schon beginnt die Beschwichtigungsmaschine zu arbeiten, auf vollen Touren und Extratouren. Die Oberhäupter stellen einander Wohlverhaltenszeugnisse aus, durch den Aether erschallen statt pathetischer und ironischer Anklagen gefühlvolle Preislieder auf den kaltbekriegten Feind von gestern, denen man die prompt nachfolgenden Preiskurante der lieferungsbereiten und lieferungshungrigen privaten oder sozialisierten Wirtschaft anmerkt. Wie aber sieht es aus, wenn wir von den Spitzen hinabsteigen zur breiten Basis? Oh, keineswegs wie einst im Rätsel vom Zuckerhut: oben spitzig, unten breit, durch und durch voll Süßigkeit. Vielmehr: oben breites Lächeln, unten aber spitzige Ausfälle, durch und durch voll Bitterkeit. Wie man etwa dem folgenden bezeichnenden Beispiel ablesen mag:

Da liegt vor uns ein polnisches Werkchen, „Rings um die Welt“, für die Schuljugend bestimmt. Auflage 75.000. Zum Druck befördert im Juli 1955, also im Monat der Genfer Konferenz. Was lehrt es die polnische — und was lehren ähnliche Erzeugnisse in anderen Satellitenstaaten die tschechische, slowakische, ungarische, rumänische, bulgarische, albanische und auch die ostzonale, ja sogar, mit geringen Abweichungen, die jugoslawische — Jugend? Zunächst eine groteske Verzerrung der Proportionen. Den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Deutschland (West und Ost) sind je eine Seite Text gewidmet, ebensoviel wie Albanien. Dafür erhält jede Bundesrepublik der Sowjetunion ebenfalls je eine Seite, abgesehen von der, die der UdSSR als ganzer geweiht wird. Und was für Seiten sind das, lauter gute, rosige, rote! Hier „blüht die rtationale Kultur, sind zahlreiche wissenschaftliche Anstalten tätig . •.“

Beinahe so prächtig wie der sowjetischen Jugend ergeht es den Menschen in den Volksdemokratien. In Bulgarien „nimmt die Jugend aktiv an der Arbeit zum Aufbau eines sozialistischen Vaterlandes teil. Für Verdienste bei der Ausführung des Zweijahresplanes wurde der Dimitrov-Verband der Volksjugend, eine mil-lionenköpfige Jugendorganisation, mit dem Goldenen Arbeitsorden ausgezeichnet“. Bei Ungarn wird die Vergangenheit in einen inhaltsreichen Satz zusammengedrängt: „Unter der Herrschaft der Bourgeoisie und des faschistischen Regimes des .Regenten' Horthy war es ein armes und rückständiges Land.“ Doch „unter der Volksherrschaft änderten sich die Lebenbedingungen grundlegend; kräftig entwickelten sich der Bergbau, die Maschinenindustrie (usw.). Ungeheurer Fortschritt vollzog sich in der ungarischen Landwirtschaft“ (siehe auch die Kritik Räkosis und Hegedüs'). „Die Wirtschaftserfolge der ungarischen Volksrepublik haben das Antlitz des Landes radikal umgewandelt. Die ungarische Jugend nimmt aktiv am Aufbau ihres Vaterlandes teil; sie ist um eine politischerzieherische Organisation (DISZ) gruppiert.“

Erwähnen wir noch die DDR, „den ersten deutschen Staat in der Geschichte, der friedlich ist, in dem die Arbeiterklasse im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft die Herrschaft ausübt ... Die freundschaftlichen Beziehungen zur DDR beweisen, daß beim Vorhandensein einer Volksherrschaft in beiden Ländern nichts unsere Länder (DDR und Polen) voneinander trennt; daß das deutsche Volk ohne Monopolisten und Junker sich die gleichen Ziele steckt wie das in der Nationalen Front vereinigte polnische“. Doch nun hinüber aus der

Welt des Friedens, des Glücks und des Wohlstands, des Fortschritts und der Freiheit, sofort in die tiefste Hölle. „Die Politik der Teilung Deutschlands, die durch die USA, England und Frankreich verwirklicht worden ist, führte zum Entstehen der sogenannten Bundesrepublik ... Die Gebieter der Bonner Republik — die Großmonopolisten und Großgrundbesitzer — betreiben eine Politik des Wiederaufbaus einer neuen Wehrmacht ... Die westdeutsche Regierung verwirft hartnäckig die Vorschläge der DDR nach Vereinigung des Landes. Parteien und Organisationen, die aktiv für die Wiedervereinigung eintreten, werden von der adenauer-schen Polizei verfolgt. 1954 wurde die FDJ illegal erklärt.“

„Die Vereinigten Staaten sind eine Bourgeoisierepublik ... Ihre regierenden Kreise vertreten die Interessen der großen kapitalistischen Monopole. Die USA sind die größte imperialistische Macht. Die USA sind ein Land großer Kontraste, wo neben unbeschreiblichem Luxus, in dem die Großkapitalisten leben, ein erheblicher TeiV der werktätigen Bevölkerung — besonders die brutaler Entrechtung unterliegenden Neger — in schwierigen Verhältnissen leben. Nach der Weltherrschaft strebend, Jegen die Vereinigten Staaten kriegerische Stützpunkte auf der gesamten Welt an und organisieren aggressive Blöcke (NATO, SEATO). Die Regierung der USA betreibt eine Politik der Faszisierung; ihr treten die fortschrittlichen Gesellschaftsgruppen entgegen. An diesem Kampfe beteiligt sich die junge Generation des Landes, die sich um die fortschrittlichen Organisationen (folgen Namen) sammelt.“

Zum Abschluß noch ein Nachtstück samt Ausblick in hellere Zukunft aus Oesterreich (wo bereits der Staats.vertrag vom 15. Mai 1955 vermerkt ist): „Die Lage der werktätigen Bevölkerung ist schwierig ... Es gibt in Oesterreich eine halbe Million (recte eine Viertelmillion) Arbeitslose, unter denen die Jugend

überwiegt. Hier existieren viele Jugendorganisationen. An ihrer Spitze die FOeJ (Frei Oesterreichische Jugend)“ — nämlich die Parteiorganisation der kaum fünf Prozent der Einwohnerschaft um sich scharenden Kommunisten, die an Mitgliederzahl nach dem Abzug der Russen noch erheblich zurückgehen dürften. „Die FOeJ führt die österreichische Jugend im Kampf um Verbesserung ihrer Existenzbedingungen, um breiten Zugang zu Bildung und Kultur“, von welchen beiden, für Oesterreich immerhin nicht ganz bedeutungslosen Faktoren (anders als von Mangan, Zink, Blei, Antimon!), überhaupt nicht die Rede ist. Was besagen auch Barockkirchen, Salzburger Festspiele, Oper, Philharmoniker, Burgtheater, was die uralte Bauern kultur oder die glorreiche Wiener Universität neben der FOeJ!

Brechen wir ab; brechen wir aber noch nicht den Stab. Geben wir der Hoffnung Ausdruck, daß derlei Produkt einer sturen „Verdum-mungsmaschine“ das letzte seiner Art sei und daß den verbindlichen Worten auf höchster Ebene wahrhaft völkerverbindende Darstellungen auch in den Tiefen folgen. Denn, „ward je in solcher Laun' ein Weib gefreit?“1 Kann Frau Koexistenz denen hold zulächeln, die von den echten Schildknaben eben dieser Dame als Feinde des Fortschritts, der Werktätigen, der Menschheit verabscheut werden müssen? Gegenseitige Kontrolle der Handbücher für Volk und Jugend ist für eine echte Befriedung des Erdballs kaum weniger wichtig als Bändigung der Atomkraft. Denn, es sind im Grunde diese „Verdummungsmasehinen“. die den Mechanismus der Atombombe auslösen.

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