6665657-1960_32_07.jpg
Digital In Arbeit

Elektrizitat und Grunwald-Feier

Werbung
Werbung
Werbung

In den Tagen vom 21. zum 24. Juli waren die polnischen Zeitungen vordringlich nur mit einem Thema beschäftigt, mit dem fünften Plenum des Zentralkomitees der herrschenden Kommunistischen Partei (PZPR). Da wurde das neu Investitionsprogramm für das Lustrum 1961 bis 1965 erörtert und gepriesen. Der „Auszug“ aus dem Referat über dieses nächste Ziel auf dem polnischen Weg zum marxistischen Paradies nahm rund 1500 Druckzeilen in Anspruch. Der Kommentare und der Reden war kein Ende. Hernach mußten Parteimitglieder und Parteilose noch zahlreiche Versammlungen mit Geduld ertragen, in denen das Hohelied von den noch höheren Produktionszahlen ertönte, aus dem nur die zukunftsmusikalisch am meisten geschulten Ohren das Haupt„leid“motiv heraushörten, nämlich die Bevorzugung der Schwerindustrie vor der Erzeugung nötiger oder gar nur nützlicher Bedarfsartikel des täglichen Lebens. Die Bevölkerung, und vor allem die Jugend, interessierte sich aber nicht einmal für die mitklingenden erfreulichen Verleitmotive, durch die ihr die harten Lasten schmackhafter gemacht werden sollten: die anerkennenswert schnelle Elektrifizierung, die — vorläufig auf dem Papier stehenden — Errungenschaften der Landwirtschaft, die — sehr zaghafte — Motorisierung, der im Eilschneckentempo vorgetriebene Bau von Wohnräumen.

Die Industrialisierung Polens schreitet mit Riesenschritten weiter. Sogar der äußere Anblick der Landschaft wandelt sich durch die vielen neuen Fabriken, Kombinate, Wasserwerke, Arbeitersiedlungen — voran die Nowa Huta bei Krakau, die schlesischen und die mittelpolnischen Industriezentren. An der Seele, am Geist der Bevölkerung geht das alles beinahe spurlos vorbei. Wer daran zweifelt, den mögen zwei Erfahrungen der jüngsten Wochen belehren. Die eine stützt sich auf Ereignisse, die mit großem Aufwand in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt wurden, die andere kann nur aus der Beobachtung, aus Umfragen gewonnen werden.

i Zwischen dem 15. und ^22. Juli hat- Polen zwei Feste gefeiert, das eine, dessen Höhepunkt die Enthüllung des Grunwald-Denkmals bildete, erinnerte an die im deutschen Sprachraum nach der Ortschaft Tannenberg benannte Schlacht, durch die Polens und Litauens verbündete Heere vor 5 50 Jahren die Macht der Kreuzherren gebrochen haben. Es mag den zünftigen Historikern anheimgegeben werden, sich darüber zu streben, inwieweit damals wirklich oder gar allein, nationale Gegensätze im Spiele waren -auf der Seite des über Ostpreußen gebietenden Ordens kämpften auch Ritter und Soldaten aus Westeuropa, einige Fürsten slawischer Abkunft. Tschechen und Ungarn; bei den Polen befanden sich längst germanisierte schlesische Piastenherzoge, russische Truppen Immerhin gilt dieser Kampf als eine Auseinandersetzung zwischen Deutschtum und Polentum. Vor fünfzig Jahren wurde das Gedächtnis daran durch die Enthüllung eines anderen Denkmals in Krakau begangen, das Paderewski gestiftet hatte; nationale Heißsporne auf beiden Seiten benutzten die Gelegenheit, um in blutrünstigen Haßorgien zu schwelgen, die damals glücklicherweise nur auf dem Papier sich austobten. Diesmal war das Echo, wenigstens in Polen, nicht ganz dasselbe. Die monumentale Ehrung König Wladyslaw Jagiellos, seines Vetters Witold, des Großfürsten von Litauen (der dort Witautas heißt) und der übrigen fürstlichen, gutsherrlichen und sonstigen Ausbeuter, die immerhin, dialektisch gesehen, die bessere Sache gegenüber den noch ausbeuterischen Junkern, Ahnen der Hakatisten und der Hakenkreuzler vertraten, hat der kommunistischen Regierung zu Warschau eine prächtige Gelegenheit geboten, weniger den nationalen Gegensatz zum deutschen Volk zu betonen, als den zur Bonner Bundesrepublik. Wie oft ist nicht das Bildnis Adenauers im Deutschordensmantel von der polnischen Presse abgedruckt worden, das ihn — auf dem Wege über Bismarck und Hitler — als Erben der Besiegten von Grunwald, der abscheulichen, verräterischen, grausamen, angriffstollen Rittermönche zeigt, wie sie bei Sienkiewicz, in dessen berühmtem Roman „Die Kreuzritter“ im Buche stehen!

Mit geschicktem Kunstgriff zwingt die Propaganda einen — betrüblichen, doch echten — nationalen Widerstreit in den Dienst einer völlig anderen Idee, die der großen Mehrheit der Polen fremd, ja zuwider ist: des Antagonismus zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten. Das Manöver mußte insoweit gelingen, als ganz Polen, die aus achtzehn Ländern hinzugeeilten, zumeist von ihren Geistlichen geführten Repräsentanten der Auslandspolen inbegriffen, mit Rührung und Begeisterung an der Grunwald-Feier teilnahm. Die Berichte darüber, die Flut von historischen Artikeln wurden mit weit höherer Bereitwilligkeit gelesen als die durch moralische Ermahnungen ergänzten Zahlenkolonnen und Wirtschaftslitaneien vom Plenum des Zentralkomitees der PZPR. Man hing am Rundfunk, um dessen Reportage zu hören, und fast eine Viertelmillion Menschen, darunter 60.000 jugendliche Pioniere, die rings um das Denkmal lagerten, waren am Ort der Zeremonien anwesend, sehr beeindruckt von dem in seiner edlen Strenge wohlgeratenen Denkmal und von der Truppenparade.

Dafür ist der Nationalfeiertag neueren Datums, der 22. Juli, sehr lau ausgefallen. Nach offizieller Darstellung, weil man sparen wollte, in Wahrheit, weil die breiten Massen und die Intellektuellen geringen Enthusiasmus hegen, die Wiederkehr des Manifest vom 22. Juli 1944 und damit die Etablierung des Kommunismus in Polen zu bejubeln. Und da empfangen wir die eine der wesentlichen Einsichten: Das Regime kann der Nation Einmütigkeit abringen und sogar scheinbare Zustimmung zu den Richtlinien, Schlagworten der Machthaber, wenn man an den historischen Sinn appelliert, die Sternstunden einer geliebten und großen Vergangenheit wachruft, nicht aber, sobald man eine — nur mit vernünftiger Resignation erduldete — Gegenwart als Herrlichkeit beweihräuchert.

Polnische Maturanten hatten heuer drei Aufsatzthemen zur Wahl: die, ,Sintflut“ unter König Jan Kazimierz (Mitte des 17. Jahrhunderts), etwas aus dem 18. Jahrhundert und den zweiten Weltkrieg. Die erhebliche Mehrheit schrieb über die Epoche, als Polen aus den ärgsten Prüfungen, im Kampf gegen Russen und Hohenzollern, Schweden und Tataren siegreich hervorging... Oder dieses Ergebnis einer Enquete des amtlichen polnischen Radios: Über ihre Haltung gegenüber der Religion befragt, antworteten von tausenden Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen, vier Prozent, sie seien Gegner eines positiven Bekenntnisses, fünf Prozent, sie interessierten sich nicht für derlei Dinge, zwölf Prozent Vorsichtige, sie wollten ihre Meinung nicht mitteilen, und achtundsiebzig Prozent, sie seien gläubige Katholiken. Noch erstaunlicher war das Resultat bei einer privaten, nicht offiziellen Nachforschung unter 67 herausgegriffenen Gymnasisasten: einer erklärte sich als religionsfeindlich, einer als unentschieden und 65 als KatholikenI Dabei weist die Liste der 1960 sich um Aufnahme in die Kommunistenpartei bewerbenden Kandidaten ein Drittel geistiger Arbeiter auf! Man denkt an die Antwort eines Statisten zum Kreuzritterfilm, der aus Anlaß des Grunwald-Jubiläums gedreht wurde, und die in ihrer unfreiwilligen Komik die Runde machte: „Waren Sie auch bei diesem Film verwendet?“ fragte ihn ein Journalist. „Ja, einmal als Fürst von Smolensk, mit den Unseren, und einmal beim Feind als Kreuzritter.“ Oder, wie Chruschtschow einmal mit grimmigem Hohn von einem Sowjetbeamten erzählte, den man ausforschte, ob er an Gott glaube: „Im Büro nein, zu Hause ja.“

Ach, man muß leben! Atheistische, materialistische Staatslenker haben alle Fäden in der Hand; sie verfügen über Polizei, Verwaltungsbehörden und Armee. Gomulka, der noch immer die sanfteste Abart eines kommunistischen Regenten ist, vermag den ehrfürchtig lauschenden Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften Richtlinien zu verhängen:

„Großen Schaden fügten der Entwicklung der Sozialwissenschaft in unserem Lande die . wissenschaftlichen Arbeiter zu, die den wissenschaftlichen Wert der von der internationalen kommunistischen Bewegung ausgearbeiteten Beurteilung der grundlegenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme leugneten und die dem von der marxistisch-leninistischen Partei vertretenen Standpunkt revisionistische, närrische Betrachtungen ... und diskreditierte sozialdemokratische Theorien gegenüberstellten... Unter dem Schild des Antidogmatismus sind in den Gesellschaftswissenschaften falsche bürgerliche und revisionistische Theorien wiederaufgelebt ... Man muß, zumal im Hinblick auf den starken klerikalen Druck, besonders die Arbeit auf dem Gebiet der weltlichen Moral und einer wissenschaftlichen Weltanschauung unterstreichen ... Das Herausholen der fortschrittlichen und schöpferischen Elemente aus unserer Geschichte, also das Aufzeigen der schlechten Erbschaft der gutsherrlich-bürgerlichen Reaktion: das ist die große Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften... Im Einklang mit der Partei der Arbeiterklasse — indem sie ihre Kräfte, ihr Talent, ihre Gedanken mit den Bemühungen der Partei und der Volksbehörden vereinen — werden die wissenschaftlichen Arbeiter die Anstrengungen und die Erfolge der Nation beim Aufbau des Sozialismus verstärken.“ (Die Wiederholungen des Originaltextes sind getreu beibehalten.) Die armen Gelehrten müssen, sich diesen erhabenen Prinzipien fügen. Auf dem 8. Historikertag zu Rzeszöw wurde vor allem über Bauernrevolten und Arbeiterstreiks der Dezennien vor der volksdemokratischen „Befreiung“ diskutiert. Bäs?=Ke8ektiv itmd1die „fortschrittlichen“ Elemente einer so wenig kollektiven und fortschrittlichen'Gerchiahtersittd Trumpf. iWas aber meint das Publikum dazu? Im Bestseller unter den Geschichtswerken der letzten Jahre obsiegt eine blendende Darstellung des polnischen Piasten-staates, verfaßt von dem zum kommunistischen Kollaboranten gewordenen hochbegabten einstigen Mitarbeiter katholischer Zeitschriften Jasienica. Er gesteht, nicht über die Massen, sondern über die großen Menschen zu berichten* die das Land zu Macht, Größe und Blüte geleitet haben.' Und wenn man, der Neigung zur Enquete folgend, die Jugend nach ihren Lieblingsautoren testet, dann vernimmt man wie eheeinst: Sienkiewicz und Kraszewski, die Lobredner der verderblichen „gutsherrlich-bürgerlichen Reaktion“!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung