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Herbst im Mai?

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Eine warme Frühlingssonne schien an diesem 3. Mai auch über Tschen- stochau. Sie meinte es gut mit den vielen zehntausenden Polen, die allen Schwierigkeiten zum Trotz an diesem Tag aus allen Teilen ihres Vaterlandes auf der Jasna Gora zusammengekommen waren. Dennoch konnten sich viele Freunde Polens nicht des Eindrucks erwehren, als lagere dichter Nebel über der polnischen Landschaft. Ein Nebel besonderer Art. Er stieg in den letzten Monaten. Er verhüllte zuletzt beinahe undurchdringlich die Szene und ihre Akteure. Stehen wir am Vorabend eines neuen Kirchenkampfes in Polen? So fragten, so mußten besorgte Beobachter angesichts der mit einer seit dem Oktober 1956 nicht gekannten Schärfe geführten Auseinandersetzungen zwischen der polnischen Regierung und den polnischen Bischöfen fragen. Und wirklich: Mitunter konnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, der vielzitierte Frühling im Oktober des Jahres 1956 sei ein Jahrzehnt später durch einen Herbst im Mai abgelöst worden.

Der 3. Mai ist vorüber, die vielen zehntausende Pilger sind in ihre Heimatorte zurtückgekehrt. Die Millenniumsfeiern des katholischen Polen klingen allmählich aus. Im „Weißen Haus“ — so nennt der polnische Volksmund den Sitz des Zentralkomitees der Vereinigten polnischen Arbeiterpartei am Weichselufer in Warschau — atmet man erleichtert auf. Gut ist es gegangen, nichts ist geschehen... Und wir glauben uns nicht zu täuschen, daß schon in naher Zukunft eine Art „psychologischer Gegenoffensive" eingeleitet werden soll, um das ramponierte polnische „Image“ in aller Welt wieder zu verbessern, um die schweren Brüskierungen, die man den zahlreichen Freunden Polens — allen voran dem Montini- Papst — zuteil werden hat lassen, vergessen zu machen. Eine solche Offensive wird es nicht leicht haben. Freundschaft läßt sich nicht während vier bis sechs Wochen auf Urlaub schicken, um dann nach der Devise „Sagen wir, es war nichts“ wiederbelebt zu werden. Es wird große, durch Taten bezeugte Anstrengungen kosten, um dort fortsetzen zu können, wo man vor der Aussperrung der Freunde des katholischen polnischen Volkes aufgehört hat. Auf jeden Fall täte man in Warschau gut, sich darüber im klaren zu sein, daß die Aktien der polnischen Politik auf den internationalen Börsen seit 1956 noch nie so niedrig notiert haben wie in den letzten Wochen und Monaten.

Und alles — unserer Meinung — völlig unnötigerweise. Was wäre geschehen, wenn sich im Zentralkomitee jene Kräfte durchgesetzt hätten, die im Gegensatz zu Generalsekretär Gomulka und seinem engeren Kreis eine flexible Haltung gegenüber den polnischen Bischöfen und ihrem vielzitierten Versöhnungsbrief sowie eine positive Einstellung zu dem Wunsch Papst Pauls VI., Polen zu besuchen, bekundet hätten? Es gab nämlich solche Kräfte. Allen voran wußte ein so weltkluger und gebildeter Mann wie der polnische Außenminister Rapacki, was auf dem Spiele stand. Aber auch sein Kollege, der Innenminister General Moczar, der als Haupt der sogenannten „Partisanengruppe“ durch eine etwas schematische Berichterstattung in den Augen vieler westlicher Zeitungsleser zu einer Art politischen Kinderschreck gemacht wurde, dachte — mehr als eine Information deutet darauf hin — äußerst „realistisch“.

Und die Realität ist eben die, daß das polnische Volk ein katholisches Volk ist, daß dieses Volk gerade dann enger um seine Bischöfe zusammenrücken wird, wenn diese dauernd attackiert werden; daß nicht zuletzt diese Bischöfe, wenn der Primas von Polen, Kardinal Wyszynski, im Trommelfeuer einer einseitigen und gehässigen Propaganda steht, ihre eigenen Gedanken über den Weg der polnischen Kirche in ihr zweites christliches Jahrtausend zurückstellen werden.

Aber wir wollten zunächst „durchspielen“, was geschehen wäre, wenn Papst Paul VI., begleitet von Vertretern des Weltepiskopats und anderen Freunden Polens, in der vergangenen Woche auf einige Stunden der Basilika auf der Jasna Gora einen Besuch abgestattet hätte. Statt 150.000 oder 200.000 Pilger wären vielleicht 300.000 bis 500.000 unterwegs gewesen. Und dann? Hätten sich diese Massen unter dem Eindruck des Papstbesuches vielleicht in Bewegung gesetzt, um der „Volksmacht“ gefährlich zu werden? Nur wer unter chronischen Alpträumen leidet, kann von solchen Gedanken auch nur angerührt werden.

Aber etwas ganz anderes wäre geschehen:

• Ein Besuch Papst Pauls VI. in Tschenstochau hätte unzweifelhaft eine moralische Stärkung der gerechten Anliegen der polnischen Nation auf allen Foren der internationalen Politik zur Folge gehabt.

• Der Papst wäre gewiß auch nicht mit leeren Händen gekommen. In seinem Reisegepäck hätten sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Kardinalshüte befunden. Einer davon wäre gewiß für den Erzbischof einer Diözese gewesen, die in jenen Gebieten liegt, die das offizielle Polen „unsere wiedergewonnenen Westgebiete“, das amtliche Deutschland aber als „gegenwärtig unter polnischer Verwaltung stehend“ bezeichnet. Jeder, der die Politik der „kleinen Schritte“ des Heiligen Stuhls zu deuten weiß, hätte sich darauf seinen Reim machen können.

• Die Öffnung der Grenzen für den Besuch des Papstes, das Erscheinen von ausländischen Bischöfen und Pilgern wäre vor aller Welt ein interessanter Beitrag für die Ernsthaftigkeit des Willens zum Dialog zwischen Marxisten und Katholiken gewesen, zu dem einzuladen Exponenten westlicher kommunistischer Parteien in letzter Zeit nicht müde werden.

Statt alledem: Der geschlossene Grenzbaum als Symbol der Unsicherheit, ja der Angst vor jeder geistigen Konfrontation.

Hat man aber — versetzen wir uns einmal in die Psyche irgendeines jener Mitglieder des polnischen ZK, die für jene fatale Weichenstellung verantwortlich zeichneten — etwas „Positives“ erreicht, was alle anderen, allen voran die außenpolitischen Negativa, wettzumachen imstande wäre?

Man hat Kardinal Wyszynski, man hat den polnischen Bischöfen gezeigt, „wer in Polen regiert“. Viel zerbrochenes Porzellan für eine dieser wie aller Welt bekannte Tatsache. Aber alles andere? Die Versuche, einen Keil zwischen den Kardinal und einen Teil des polnischen Episkopats zu treiben, die Bestrebungen, die polnischen Bischöfe vom niederen Klerus beziehungsweise von den Massen der Gläubigen zu isolieren oder zumindest die festen Bande lockerer zu machen: sie schlugen letzten Endes genau in das Gegenteil um. Dabei gab es — das kann man heute ruhig sagen — eine kritische Phase. Sie war im Spätherbst des vergangenen Jahres,

als die in dem Brief an den deutschen Episkopat ausgesprochene Bereitschaft zum Vergeben und — im Sinne des „Vaterunser“ — erbetene Vergebung weite Kreise des katholischen Volkes, aber auch der polnischen Intelligenz psychologisch unvorbereitet für diesen hochherzigen Akt fand. Damals hörten wir mit unseren eigenen Ohren mehr als einmal Worte des Erstaunens, ja des Zweifels, ob die Bischöfe im fernen Rom gut beraten gewesen wären.

Alle diese „innerkatholischen Dialoge“ verstummten aber sofort, als die offizielle Propaganda ihre schweren Geschütze gegen den Kardinal richtete. Ja, es wiederholte sich eine schon mehrmals gemachte Erfahrung: Selbst in liberalen oder auch sonst der Person und Linie Kardinal Wyszynskis nicht immer unkritisch eingestellten Kreisen erwuchsen für den aufs gröbste attackierten Mann in der Miodowa Sympathien, deren er sonst in einem solchen Ausmaß nie zuteil geworden wäre.

Eines freilich dürfen sich die Verantwortlichen in Warschau zugute halten. Durch ihre Attacken haben sie jedes innerkatholische Gespräch erschwert und auf lange Sicht hinausgeschoben. Der polnische Katholizismus ist nämlich unter normalen Lebensbedingungen wie in jedem anderen Land in der Gegenwart kein monolythischer Block. Er findet seinen Ausdruck heute nicht allein in großen, in vergangenen Jahrhunderten gewachsenen Marien- wallfahrten, sondern auch in Bestrebungen, Modelle für die Bewältigung des zweiten christlichen polnischen Jahrtausends zu bilden. Neben traditionellen, im Westen heute kaum noch anzutreffenden Formen der Frömmigkeit stehen kühne Experimente. Kein Wunder, daß es auch unter den polnischen Bischöfen Männer mit verschiedenen Temperamenten und Perspektiven gibt. Sie alle legen sich eine natürliche Selbstbeschränkung auf, wann immer der Versuch unternommen wird, etwa eine als „französisch“ apostrophierte Richtung im Episkopat, die mit Namen wie denen des Erzbischofs Wojtyla in Krakau oder des Erzbischofs Kominek in Breslau verbunden werden, gegen die als „spanisch“ etikettierte Linie des Primas oder mehr noch etwa des Erzbischofs von Posen, Baranjak. auszuspielen.

Wie immer helfen sich die Extreme. Schaltet das Regime auf hart, so stärkt es damit zwangsläufig die von ihm als „integristisch“ bezeichneten katholischen Kreise, während jene, die Gedanken nahestehen, wie sie von den Bischöfen der Konzilsmehrheit in Rom verfochten wurden, kurz treten werden. Aber vielleicht hat man trotz allen gern gemachten Beteuerungen („Ja, wenn Kardinal König Primas von Polen wäre...“) kein Interesse an einer Kirche, die stärker vielleicht als bisher „Blickrichtung Zukunft“ genommen hat, weil man in diesem Fall die eigene Ideologie für viel zuwenig „konkurrenzfähig“ hält. Mit einer Kirche, die da und ’dort „triumphalistisčhe“ Elemente beinhaltet, tut man es sich schon leichter. Zumindest in der ohnehin sehr mühsamen Propaganda.

Tschenstochau ist vorüber, ebenso die Konfrontation der kirchlichen Mdllenniumsfeiern mit der Manifestation des Staates in Gnesen und Posen. Viel Glas, polnisches Glas, wurde bei dieser überflüssigen Probe aufs Exempel zerschlagen. Dennoch besteht die Hoffnung, daß man nun auch im offiziellen Warschau, nachdem die Angst vor den katholischen Massen und ihren unberechenbaren Reaktionen — ein altes, aus der eigenen Geschichte kommunistischer Parteien erwachsenes Trauma — vorüber ist, wieder nüchterner der Realität gegenübersteht.

Wir sprachen eingangs vor der allem Anschein nach zu erwartenden „psychologischen Gegenoffensive“ und den Schwierigkeiten, die diese zu überwinden haben wird. Hierbei sei eine Maxime, die der langjährige österreichische Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten Doktor Kreisky einmal aufgestellt hat, in Erinnerung gerufen: Als Sozialist bekannte er vor jedem, der es hören wollte, daß das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Polen nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung der Beziehung zwischen Österreich und Polen sein könne. Positiv oder negativ. Das sei keine Einmischung in die innerpolnischen Angelegenheiten, sondern eine natürliche Reflexion der Tatsache, daß die österreichische Außenpolitik auch die Gefühle der katholischen Bevölkerung Österreichs in Rechnung zu stellen habe. Was für die offiziellen Beziehungen zwischen den Staaten gilt, gilt noch mehr für die Entwicklung der Beziehungen auf allen Gebieten des modernen Lebens.

Es liegt also bei den politischen Wettermachern in Warschau, die Maisonne alle unzeitgemäßen Nebel zerteilen zu lassen.

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