7035442-1989_47_03.jpg
Digital In Arbeit

Blick durch die Löcher der Mauer

19451960198020002020

Die Perspektiven für ein neues Deutschland werden nach alten politischen Kriterien entworfen. Wer fragt die DDR-Bürger? In den Kirchen der DDR geschieht viel politische Zukunftsarbeit.

19451960198020002020

Die Perspektiven für ein neues Deutschland werden nach alten politischen Kriterien entworfen. Wer fragt die DDR-Bürger? In den Kirchen der DDR geschieht viel politische Zukunftsarbeit.

Werbung
Werbung
Werbung

„Wiedervereinigung“ als Zukunftsmöglichkeit und als Schrek-kensbild ist das wieder auf getauchte Uralt-Schlagwort. Kaum jemand befragt - Selbstbestimmungsrecht hin oder her - die Betroffenen selbst; von den Westdeutschen nehmen die, die das politische Sagen haben, fraglos an, daß sie seit 40 Jahren an nichts anderes denken; die Ostdeutschen, so wird argumentiert, haben in den letzten Monaten darüber ja schon mit den Füßen abgestimmt.

Ein Blick durch die Löcher der Mauer liefert einen anderen Befund, Bei den wöchentlichen Demonstrationen in den großen Städten der DDR kommt die Forderung nach „Wiedervereinigung“ maximal am Rande vor. „Die Wiedervereinigungsdebatte ist den Bürgern der DDR viel zu blöd“, konstatiert -ähnlich wie dies der im Ostteil Berlins lebende Schriftsteller Lutz Rathenow sieht - Österreichs Jugendseelsorger Willi Vieböck, der sich zur Zeit des ersten sichtbaren Ergebnisses der DDR-Revolution anläßlich einer internationalen Konferenz für Jugendseelsorge gerade im thüringischen Heiligenstadt befand und dort erleben konnte, „wie das Volk seine Politiker erzieht“. Österreicher hört her!

Wofür man in der DDR gegenwärtig kämpft, sind freie Wahlen, Reisefreiheit, Ablösung der Vormachtstellung der SED, Demokratie und - nach dem Motto „Egon reiß die Mauer ab, denn die Steine werden knapp“ - funktionierende Volkswirtschaft.

Vieböck ist sehr angetan von • dieser Basisdemokratie. Als bei der Heiligenstädter Demonstration vom Dienstag, 7. November (die Mauer fiel am 9./10. November), ein Parteibonze die Demonstranten mit „Liebe Heiligenstädter“ anredete, wurde das gleich wohlwollend kommentiert: „Det hat er schon gelernt, vor'ge Woche war'n wa noch die lieben Genossen.“ Mit Buhrufen wurden Vereinnahmungen der Protestaktion - etwa der „Dank“ an die Bürger, daß sie zu „unserer Kundgebung“ gekommen seien - quittiert.

Wichtig erscheint dem österreichischen Jugendseelsorger die enge Verbindung von Gebet und politischer Aktion - etwas, das man sonst nur aus Lateinamerika (für viele europäische Christen „Gott sei Dank weit weg“) kennt. In der Heiligenstädter Gegend in Thüringen spielt übrigens die katholische Kirche jene Rolle, die sonst in der DDR in erster Linie die evangelische Gemeinschaft übernommen hat: einen von der herrschenden Politik und Ideologie freien Raum für gesellschaftskritische Betätigung zur Verfügung zu stellen; ein im weitesten Sinne ökumenisches Unterfangen, weil hier Plattformen von Menschen unterschiedlicher ideologischer, politischer und religiöser He'rkunft entstehen und Parteibildungen zweitrangig sind.

In der Gerhard-Kirche in Heiligenstadt konnte Pfarrer Vieböck „politische Liturgie im besten Sinn“ kennenlernen; und zwar sowohl von der Struktur des Gottesdienstes als auch von den Inhalten her. Schon der Einzug zum Wortgottesdienst in der überfüllten Kirche gestaltet sich „demokratisch“. Männer und Frauen, katholisch, evangelisch, ziehen ins Presbyterium, der Propst der Kirche entdeckt unter den Glaubigen den Erfurter Weihbi-aehof -und holt ihn nach vorne, „wohin er ja auch gehört“: Dann beginnt - ganz konservativ? - das Rosenkranzgebet mit Einschüben wie „Jesus, der uns Mut zur Entschlossenheit gibt“, „Jesus, der mit uns geht“, „Jesus, der uns lehrt, mit ausgebreiteten Armen zu leben“. Nach Lesungen, Liedern und Gebeten werden „Zeugnisse“ von Erfahrungen im politischen und wirtschaftlichen Alltag abgelegt (Kinder berichten beispielsweise von ihren Gewissenskämpfen, ob sie zu den Pionieren gehen sollten oder nicht). Wichtig bei diesen Gottesdiensten - so Vieböck - ist die Erfolgsauflistung der Gewaltfreiheit, Antworten auf die Frage, was man bisher schon politisch erreicht habe. Ein evangelischer Pfarrer macht das sprachlich sehr einfühlsam und eindrucksvoll: „Manche Verantwortliche sind ihrer Ämter schon entbunden worden.“

Die Kirche in der DDR - auch die katholische, was man eigentlich im

Westen wenig registriert - bot und bietet die Basis für das Entstehen von Öffentlichkeit; etwas, dessen Fehlen - sowohl bezüglich gegenwärtiger politischer Auseinandersetzung als auch bezüglich historischer Glasnost - Lutz Rathenow im Gespräch mit der FURCHE beklagt. Vergangenheitsaufarbeitung ist in der DDR noch nicht möglich. Für Rathenow bedeutete dies in erster Linie Auseinandersetzung mit der Kontinuität polizeilicher Ubergriffe in den vergangenen vierzig Jahren.

Der Blick in die DDR durch die Öffnungen der Mauer relativiert auch alles, was im Westen, aber auch im Osten über die Perspektiven des zweiten deutschen Staates gedacht, gesagt und gefordert wird. Es gibt nämlich keine einheitliche Perspektive, ist der Eindruck, den Vieböck gewonnen hat. Natürlich, irgendwie setzt man auf freie Wahlen. Dafür, glauben manche, könnten sich die Blöckparteien der DDR (das heißt die bisher in der Nationalen Front eng mit den Kommunisten zusammenarbeitenden Christdemokraten, Nationaldemokraten, Liberalen) emanzipieren. Andere sind dafür, daß die SED vorläufig weitermachen soll, „weil man annimmt, daß sie sowieso nicht mehr hinter das Erreichte zurückkehren kann“. In der Zwischenzeit könnten sich die neue Sozialdemokratische Partei (SDP) odzr das Neue Forum parteipolitisch formieren. Alles - so Vieböck - geschieht unter der Devise: „Mehr Freiheit, eigener Staat und gute wirtschaftliche Versorgung.“

Rathenow, dazu befragt, zeichnet ein ähnliches Bild der revolutionären Situation: „Das Meinungsspektrum in der DDR wird ja nicht sofort repräsentiert, wenn sich drei, vier Leute zusammentun und sagen, wir sind jetzt eine freie Partei.“ Wohl gebe es eine Meinungsrepräsentanz auf der linken Seite des Polit-Spektrums, nicht aber auf der liberalen rechten Seite. „Außerdem “ - gibt Rathenow zu bedenken - „haben natürlich die SED und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) einen ungeheuren Machtapparat, Finanzapparat und Organisationsapparat.

Das geht ja hinein bis in die Jugendclubs zum Beispiel. Sie haben Gelder zur Verfügung, Druckmaschinen, wovon andere Organisationen nur träumen können. Und jetzt sollen die neuen Politorgani-sationen innerhalb von einigen Monaten zu wirksamen Parteien werden?“

Wenn es zu Wahlen in der DDR im nächsten Frühjahr kommt, dann könnte die SED (auch über Anerkennung seitens westlicher Politiker) wählbar und koalitionsfähig sein, ist Rathenow überzeugt. Und als Koalitionspartner - so der Literat - bieten sich zur Zeit alle Oppositionsgruppen mit Ausnahme der Sozialdemokraten an. Denn die politische Option ist bei vielen DDR-Oppositionsgruppen „etwas verwaschen, wie das Beispiel des Demokratischen Aufbruchs zeigt“ (Rathenow).

Der Grund dafür liegt in der DDR darin, daß sich jetzt - auch eine Eigenheit in der so uneinheitlich gewordenen osteuropäischen Staatengemeinschaft - im zweiten deutschen Staat so etwas wie ein sozialrevolutionärer Aufbruch bemerkbar macht; und zwar auch deshalb, „weil in der DDR das linke Potential größer ist als in anderen sozialistischen Ländern“ - so Rathenow. „Bei uns wirkt die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung auch dadurch nach, daß Karl Marx und Friedrich Engels im deutschen Original lesbar sind und eine anregendere Lektüre waren als Lenin auf Russisch.“

Ein zweiter Grund für das noch immer starke sozialistische Potential liegt nach Rathenows Einschätzung in den besonderen deutschdeutschen Beziehungen. „Die Sozialisation der intellektuellen West-Linken ist zum Teil in der DDR nachvöllzogen worden. So ist die Ablehnung der Wiedervereinigung in Teilen unserer linken Opposition Ausdruck ihrer engen Fixierung auf die Bundesrepublik. Sie verinnerlichen die Verhaltensmuster der West-Grürten und der SPD. Das erlebe ich immer wieder. Nachdrücklich bei denen, die besonders vehement gegen die Wiedervereinigung sind.

Dasselbe erlebe ich auch in der Aussage einer Frau, die eine Weile durch die Welt reisen durfte und sagfe, ihr habe es überall besser gefallen als in der Bundesrepublik. Sie hat das als Zeichen dafür genommen, daß sie eigentlich gegen eine deutsch-deutsche Vereinigimg ist. Für mich ist das wieder nur ein Beispiel dieser Fixiertheit. Mir persönlich hat beispielsweise Wien auch besser gefallen als Westberlin, das mir zu anstrengend war. Aber Wien ist eben die “Hauptstadt eines anderen Landes und Westberlin nur der luxuriöse Wurmfortsatz der DDR.“

Die DDR ist seit zwei Wochen ein Land großer Chancen. Sie ist auch zum Objekt von Spekulationen politischer und wirtschaftlicher Natur geworden. Im Westen kann man jetzt leicht die Hände in den Schoß legen und den Niedergang des Kommunismus am Fernsehschirm verfolgen. Vieböck, der die Woche des Umbruchs hautnah erlebte, zieht andere. Folgerungen - auch für Österreich.

Es gelte, auch hierzulande politische Freiräume zu schätzen und zu nützen. Die Freude über die Umgestaltung in der DDR müßte in Hilfsbereitschaft münden, das „Immer schon gewußf-Gerede sei so entwürdigend.

In besonderer Weise sind jetzt Christen zum Handeln aufgefordert, betont der Jugendseelsorger -gerade auch deswegen, weil in der DDR die Kirchen an vorderster Front auch der gesellschaftlichen Veränderungen stehen. „Jetzt gilt es großzügig Mittel zur Verfügung zu stellen, daß kirchlicherseits in der DDR - aber auch in anderen osteuropäischen Ländern - die neuen Möglichkeiten genutzt werden können, solange die wirtschaftliche Lage es diesen Kirchen nicht erlaubt, Freiräume auszunützen.“

Hört Österreichs Kirche, die mit dem Österreichischen Entwicklungsdienst (OED), der Aktion „Bruder in Not“ und anderen Einrichtungen ihre Verantwortung gegenüber dem Süden begriffen und wahrgenommen hat, diese Mahnung, jetzt auch nach Osten zu schauen'

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung