"Ich bin seit 1989 ein hartnäckiger Realo"

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Zehn Jahre hindurch leitete Joachim Gauck jene Behörde, deren Aufgabe es ist, die Unterlagen des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes aufzuarbeiten und interessierten Bürgern zugänglich zu machen. Nun scheidet er aus seinem Amt. Im Furche-Gespräch zieht er eine Bilanz dieser Jahre.

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Zehn Jahre hindurch leitete Joachim Gauck jene Behörde, deren Aufgabe es ist, die Unterlagen des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes aufzuarbeiten und interessierten Bürgern zugänglich zu machen. Nun scheidet er aus seinem Amt. Im Furche-Gespräch zieht er eine Bilanz dieser Jahre.

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Die Furche: Sie haben zehn Jahre lang Stasi-Unterlagen aufgearbeitet. Welche Gefühle haben Sie jetzt beim Abschiednehmen von dieser Arbeit?

Joachim Gauck: Ja, das ist einmal ein Gefühl der Entlastung wegen der enormen Anstrengungen, die damit verbunden waren. Die Deutschen streiten sich eben um ihre Vergangenheit, das tun sie seit vielen Jahren. Deshalb gibt es auch Befriedigung beim Abschied, dass wir ein Aufarbeitungsmodell gefunden haben, wie es einer erwachsenen Nation würdig ist, nicht zu schweigen über Verstrickung, Unterwerfung und Diktatur, sondern zu reden und zu streiten darüber.

Die Furche: Ist in diesen zehn gemeinsamen Jahren in Deutschland zusammengewachsen, was zusammengehört?

Gauck: Nein, selbstverständlich nicht, weil zehn Jahre dafür zu kurz sind. Wenn man 50 Jahre lang getrennte Wege gegangen ist, und ein Teil hat schon in der Schule gelernt, die Meinung zu sagen, einen Klassensprecher zu wählen, eine Schülerzeitung zu schreiben, und ein anderer Teil hat gelernt, sich eine Uniform des Jugendverbandes anzuziehen, jeden Montag einen Fahnenappell zu machen, keinen Klassensprecher, sondern einen FDJ-Funktionär zu wählen und im Betrieb keine Personalvertretung. Dieser Teil wusste auch nicht, was eine freie Partei ist, er konnte sich kein Urteil bilden durch eine differenzierte Presse und hat niemals im Leben freie Wahlen erlebt. Das machen Sie mal über zwei oder drei Generationen wie die ostdeutsche Bevölkerung, die auf all dies seit 33 verzichten musste. Und dann seien Sie mal völlig identisch mit einem anderen Teil, der all das erlernen konnte. Diktatur ist wie eine Krankheit. Wenn die über einen Organismus kommt, braucht dieser eine Zeit der Gesundung. Und in dieser Rekonvaleszenzzeit befinden wir uns im Osten Deutschlands.

Die Furche: Wie beurteilen Sie den Osten Deutschlands derzeit?

Gauck: Als eine problematische Politiklandschaft, in der es sehr achtenswerte Inseln von Zivilgesellschaft gibt und in der es sehr große unbefriedete und unzufriedene Areale gibt, in denen die Zivilgesellschaft ein Fremdwort ist, wo Menschen leben, die sich an eine jahrzehntelange Unterwerfung gewöhnt hatten, für die Gehorsam in quasi altdeutscher Tradition Normalität war und wo die freiheitliche Gesellschaft mehr Angst macht, als Hoffnung auslöst. In einer solchen Übergangsgesellschaft befinden wir uns im Osten. Eines kommt belastend hinzu: Die kollektive Erfolgsgeschichte, die für die Westdeutschen die Zeit des Wirtschaftswunders war, gibt es nur für zwei Drittel der Ostdeutschen, für ein Drittel nicht. Und da schlechte Nachrichten in der Presse gute Nachrichten sind, reden alle über die Frustration eines Drittels der Bevölkerung, und über die Freuden von zwei Dritteln wird mehrheitlich geschwiegen.

Die Furche: Welche Bedeutung hat Ihre Behörde für den Osten Deutschlands?

Gauck: Eine zwiespältige. Sie ist für alle, die zum Lager der Aufgeklärten gehören, ein unerlässliches Instrument, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie war. Als repressive Diktatur. Und für die, die nostalgisch denken, für die, die auch vielleicht den Ost-West-Gegensatz neu kultivieren, für die sind wir schädlich, so was wie Nestbeschmutzer.

Die Furche: Sind Sie unzufrieden mit Ihrer eigenen Haltung zu DDR-Zeiten?

Gauck: Erst mal nein, ich war immer oppositionell. Aber für mich selber ging mein Leben oft linke idealistische Wege. Ich habe mir dann mit Ernst Bloch und interessanten linken Theologen aus dem Westen die Wirklichkeit versüßt. Dann gab es welche, die gesagt haben, ja, dieses Modell liegt eben dem Evangelium sehr viel näher. Und das ist für mich seit 1989 kritikwürdig geworden. Ich habe bedauert, dass ich nicht ein, zwei Jahre früher in die Fundamentalopposition übergewechselt bin. Es gibt keinen dritten Weg, wo wir der Bevölkerung ein Sozialismusmodell anbieten ohne Terror, mit Freiheit, wenn wir die Ökonomie des dritten Weges nicht definieren können. Deshalb bin ich seit 89 ein hartnäckiger Realo, der sich mit allen möglichen linken Romantikern kräftig anlegt.

Die Furche: Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Arbeit in diesen zehn Jahren: Sind Sie zufrieden, was Sie geschafft haben?

Gauck: Ich bin damit mehr als zufrieden. Wir haben 4,7 Millionen Anträge bekommen und jeden Monat kommen 10.000 neue allein von Bürgern, die Akteneinsicht haben wollen dazu. Wir haben 99 und 2000 mehr Anträge auf diesem Sektor bekommen als 98. Das haben die Deutschen angenommen, die deutsche Politik hat sich entschieden, die Interessen der Unterdrückten für wichtiger zu nehmen als die Interessen der Unterdrücker. Das ist eine herausragende Politikentscheidung, die vom Ausland auch mit großen Augen angeschaut wird. Ich bin stolz, daran mitgewirkt zu haben. Wo ich mich getäuscht habe, ist etwas anderes: Ich hatte gedacht, dass eine vernünftige Politik für die Mehrheit der Unterdrückten schnell zu einem kathartischen Effekt in der Gesellschaft führt, dass es mehr Aufgeklärte und weniger Nostalgiker gibt. Da habe ich gedacht, wer so viel Aufklärung ermöglicht, wird auf eine Bevölkerung stoßen, die auch viel Aufklärung will. Da müssen wir lernen, mit anderen zeitlichen Schritten zu rechnen. Es dauert sehr, sehr viel länger, dass die Masse einer Bevölkerung sich einem kathartischen Abschied von Verstrickung, Gehorsam und Mitmachen unterzieht. Es gibt große Bevölkerungsgruppen, die lieben es, die Vergangenheit so zu erinnern wie nach dem Krieg: Es war auch nicht alles schlecht beim Führer. Sie überziehen eine schreckliche diktatorische Politik mit einem Zuckerguss von sehr persönlichen Erinnerungen. Die Leute lieben es dann, irgendwie aus schlechten Zeiten Gutes zu erinnern. Der Himmel war blau, sie liebten und wurden geliebt, es gab kleine süße Kinder, und man hat im Sportverein schöne Stunden verbracht ...

Die Furche: Wie viel haben sie von den Akten aufarbeiten können, wie viele müssen noch aufgearbeitet werden?

Gauck: Wir haben eine unvorstellbare Flut von Informationen in den Archiven. Rund 180 Kilometer Archivgut verwalten wir, nur aus dem Bereich der Geheimpolizei, und sind, sagen wir mal, drei Viertel mit dem Material so weit, dass es in archivischer Ordnung ist. Da gibt es auch noch handzerstörtes und geschreddertes Material. Das handzerissene verwahren wir in über 10.000 Papiersäcken. Wenn ich zusätzliches Personal bekomme, wie es zur Zeit mit einer Arbeitsgruppe von circa 40 Personen ist, arbeiten die, indem sie diese Papierseiten zusammenpuzzeln. So ist eine jahrelange Observierung etwa des Schriftstellers Stefan Heym wieder nachvollziehbar.

Die Furche: Gibt es so etwas wie ein berührendstes Erlebnis oder ein wichtigstes Ereignis in diesen zehn Jahren?

Gauck: Das war der Tag der ersten Aktenöffnung, 2. Januar 1992. In einer Ecke saß Vera Wollenberger, heute Vera Lengsfeld, Mitglied des Bundestages, Dissidentin in früheren Zeiten, die aus den Akten erlas, dass ihr eigener Ehemann und Vater der beiden Kinder als IM (= informeller Mitarbeiter) "Donald" Spitzel der Staatssicherheit war. Er hatte es ihr bis dahin noch nicht selber gestanden. Im selben Raum saß ein Autor und Journalist, Ulrich Schacht, der auch im Gefängnis gesessen hatte und dem auch übel mitgespielt worden war. Aber er strahlte über das ganze Gesicht. Er wollte am Abend all seinen Freunden einen Dankesbrief schreiben, denn, so sagte er: Keiner von ihnen hat mich verraten.

Die Furche: Wie leicht oder wie schwer tut sich die Kirche heute im Vergleich zu damals?

Gauck: Mich bewegt es, wenn die Kirche ihren Standort nicht findet. Das Tragische ist, dass die Kirche oft meint, man müsse auch heute eine Art Widerstand an den Tag legen. Das ist aber Unfug, denn in der Demokratie ist zwar Opposition angezeigt, aber Widerstand im Sinne eines Widerstands gegen Diktatur nicht. Damals wurde die Kirche gehört, wenn auch von Minderheiten. In dieser Existenz als Minderheitenkirche hat sie Kraft, ihre geistliche Kraft und Stärke gezeigt. Und jetzt ist die Kirche für diesen Bereich gesellschaftlicher Veränderung verzichtbar. Viele der damals sehr bewegten Menschen haben den Faktor Sinngebung für ihr Leben nicht neu entdeckt. Sie tun so, als würde sich in der Freiheit der Sinn von selbst ergeben. Aber das, denke ich, ist ein Irrtum. Man muss den Sinn in seinem Leben auch suchen und setzen und wollen. Da ist die Bedeutung der Kirche für viele nicht mehr klar erkennbar. Solange sie selber auch nur ein bisschen umherirrt bei ihrer Orientierung, ist ihr Angebot auch nicht so, dass diejenigen, die Sinn suchen, unbedingt bei ihr einkehren.

Das Gespräch führte Stefan May ZUR PERSON Pfarrer im Dienste der deutschen Einigung Joachim Gauck wurde am 24. Januar 1940 in Rostock geboren. Sein Vater wurde von den Sowjets 1951 verschleppt und kehrte erst 1955 zurück. Nach der Matura studierte Gauck Theologie und stand dann mehr als 25 Jahre als Pfarrer im Dienst der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. 1989 war er in Rostock Mitinitiator des Widerstands gegen die SED-Herrschaft. Mit dem Vollzug der deutschen Einheit wurde Gauck Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Aufarbeitung personenbezogener Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes und 1995 zum Vorsitzenden der nach ihm benannten Behörde für eine zweite Amtsperiode gewählt. Der für seine Redekunst bekannte Bürgerrechtler wurde mit mehreren Preisen geehrt, blieb aber auch nicht von Kritik verschont, wenn er aus den Stasi-Archiven unliebsame Neuigkeiten an die Öffentlichkeit brachte. Zuletzt drohte ihm Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl mit gerichtlichen Schritten, sollte Gauck die Kohl betreffenden Abhörprotokolle der Stasi dem Parteispenden-Untersuchungsausschuss aushändigen. Mit 2. Oktober beendet er seine Tätigkeit in der Behörde.

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