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Christa Sauer, Leiterin des Kulturforums an der österreichischen Botschaft in Berlin, über die Jahre nach der Wende, Einsichten und Aussichten, kulturelle Wechselbeziehungen und das Leben in einer Stadt der steten Veränderung.

Die Furche: Wie lange leben Sie schon in Berlin?

Christa Sauer: Eigentlich erst zwei Jahre, früher war die Botschaft ja in Bonn. Aber ich habe schon die Wende in Deutschland mitgemacht. Es war für mich eine sehr große Herausforderung, dass ich diese schrittweise Veränderung miterleben konnte, die Wiedervereinigung Deutschlands aber auch Wiedervereinigung Europas, Österreichs EU-Beitritt und auch manche Krisenzeiten...

Die Furche: Was merkt man heute noch von der ehemaligen Trennung in Ost- und West-Berlin?

Sauer: Also baulich einiges. Es hat sich natürlich unendlich viel geändert in diesen Jahren, besonders im Bezirk Berlin Mitte. Aber außerhalb dieser schönen Bezirke sieht man sofort: Das ist Osten, die Plattenbauten, die ehemalige Stalin-Allee, die ist sogar unter Denkmalschutz gestellt, und da sieht man dann ganz klar die Architektur des Ostens, die ja eine politische Architektur war, genauso wie die Hitler-Architektur.

Unterschiede gibt es zweifellos auch in den Köpfen, und es ist ja auch kein Zufall, dass die PDS gerade in Berlin Stimmen macht, weil hier diese beiden Welten, die des Konsums, des Kapitalismus und die der sozialistischen Ideologie, aufeinanderprallen wie sonst nirgends.

Die Furche: Wurden viele Straßennamen geändert nach der Wende?

Sauer: Ja, schon. Die historischen Figuren wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht, die hat man natürlich belassen. Aber diese vielen Klein- und Mittelfunktionäre, die sich da verewigen wollten, die hat man verschwinden lassen.

Die Furche: Gibt es immer noch eine große Einkommensschere zwischen Ossis und Wessis?

Sauer: Ja, sicher. Das Ziel der deutschen Politiker ist natürlich die Durchmischung und Mobilität der Bevölkerung. Man hat das auch in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung sehr stark forciert.

Zur Einkommensschere: Es gibt natürlich eine Menge Leute, die es nicht geschafft haben. Wer zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung so zwischen 40 und 55 war, der fiel durch den Rost. Das waren die Leute, die zu jung waren, in Pension zu gehen und zu alt, um neu anzufangen.

Die Furche: Sie haben eine politisch sehr bewegte Zeit miterlebt. Gab es da ein Erlebnis, an das Sie sich besonders deutlich erinnern?

Sauer: Es ist mehr ein Mosaik, aber ein Beispiel: In der Nacht vor der Wiedervereinigung haben wir einem deutschen Staatssekretär zu diesem historischen Ereignis gratuliert, und er sagte: Eigentlich ist uns kein Land Europas so fremd wie dieses (Ostdeutschland; Anm.). Wir schicken unsere Kinder nach England und Frankreich, damit sie Sprachen lernen, und sie studieren an amerikanischen Universitäten, und wir gehen seit Jahrzehnten in italienische Restaurants und bestellen dort Dinge mit der größten Sebstverständlichkeit, die unsere geworden sind. Aber wir können uns in diesem Land nicht bewegen, das eigentlich unser eigenes ist, und die können sich bei uns nicht bewegen. Unsere Kinder finden problemlos die Fidschi-Inseln auf dem Atlas, aber sie finden den Ort Chemnitz nicht. Und das ist die Aufgabe der nächsten Jahre, dass wir diese Fremdheit überwinden.

Das war eigentlich ein sehr nachdenklicher Satz, der mich manchmal auch begleitet hat.

Die Furche: Berlin ist eine Stadt mit vielen Gesichtern: Was schätzen Sie persönlich hier - und was gefällt Ihnen nicht?

Sauer: Es gibt natürlich schon Bezirke, die sehr grau sind. Aber andererseits gibt es in Berlin auch unglaublich viel Grün. Der Tiergarten, an den wir hier unmittelbar angrenzen, ist eine städtische Oase, größer als der Central Park oder als der Hyde Park.

Zur Stadtarchitektur: Es gibt wahrscheinlich keine innerstädtische Architektur oder Entwicklung in Europa, wo diese beiden Welten Ost und West, aber auch Alt und Neu so aufeinander treffen wie in Berlin. Durch die Bombardements in den Jahren '44 und '45 wurde so viel zerstört, dass nur sehr wenig vom alten Berlin übrig geblieben ist. Berlin hat auch - unabhängig von den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs - keine so lange Geschichte wie Wien oder auch Paris oder London. 750 Jahre, das ist in Europa keine wirklich alte Stadt.

Die Furche: In Berlin wird jetzt sehr viel gebaut ...

Sauer: Wir arbeiten ja selbst in einem dieser modernen Gebäude - von Hans Hollein. Und es gibt keinen modernen Architekten von Weltgeltung, der in den letzten zehn Jahren hier nicht gebaut hat. Das ist alles privates Bauvolumen, das sind keine kommunalen Aufträge, Berlin ist pleite. Die Stadt steht vor Aufgaben, die kaum zu bewältigen sind - allein die Zusammenführung der beiden Verkehrssysteme. Das sind ja Jahrhundertaufgaben! Man muss sich das vorstellen: Eine Stadt, die vorher ungefähr die Größenordnung Wiens hatte, verdoppelt sich über Nacht - wobei aber nicht eine Stadt gleichen Lebensniveaus dazukommt, sondern eine auf dem Wohlstandslevel von 1950 oder 1960, ohne moderne Infrastruktur.

Die Furche: Berlin wird manchmal nachgesagt, es sei keine schöne Stadt, zu weitläufig, ungemütlich ...

Sauer: Es ist eine große und wuchtige Stadt, und man müsste auch über Schönheit und Ästhetik generell diskutieren. Hier hat immer eine protestantisch-preußische Ethik vorgeherrscht, die auf Schlichtheit beruht, Inhalt statt Form - während Wien etwa eher eine Stadt der Gegenreformation, des Barock ist, wo an jeder Ecke eine Kirche steht, die per se schon ein Kunstwerk ist, wo Sie überall Adelspaläste haben, die entsprechenden Straßenzüge, Geschäfte usw. Das sind alles Dinge, die es in Berlin so nicht gibt. Die grundsätzliche Einstellung ist, dass Schlichtheit mehr zählt als Pomp.

Die Furche: Wie beurteilen Sie das kulturelle Leben in Berlin - etwa im Vergleich zu Wien?

Sauer: Historisch gesehen gibt es besonders im 19. und in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen sehr starken Brain Drain. Robert Musil hat hier den "Mann ohne Eigenschaften" zum Großteil geschrieben; Wittgenstein hat hier studiert; Kafka, Schönberg, Gottfried von Einem haben hier gelebt und gewirkt, auch Egon Erwin Kisch, Billy Wilder und zahllose andere Leute aus der k. u. k. Monarchie und aus Wien selbst. Über das Verlagswesen, da könnte man ganze Dissertationen schreiben, wer verflochten war mit wem und wer wohin gegangen ist usw. Das war eine riesige Achse, das hat natürlich mit dem Nationalsozialismus abrupt aufgehört und in dieser Form sicher nicht wieder stattgefunden.

Die Furche: Wurden nach der Wende nicht neue Beziehungen geknüpft?

Sauer: Ich glaube nicht, dass man das von offizieller Seite verordnen kann, aber es beginnt wieder sich zu entwickeln, dass besonders Literaten hierher gehen. Peter Handke hat hier einige Jahre gelebt, es gibt junge wie Kathrin Röggla oder Elfriede Czurda, die hier leben. Es gibt kaum einen Literaten, der nicht gerne hierher eine Lesereise macht. Wir können das oft gar nicht in dem Ausmaß organisieren und finanzieren, wie das Interesse groß ist.

Aber es muss ja nicht alles über die offiziellen Kanäle gehen. Es gibt ein Geflecht von Beziehungen, das sich selbst organisch entwickelt, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen. Wir versuchen natürlich zu unterstützen, wir versuchen, Kanäle zu schaffen, Rohre zu legen, durch die dann die Kultur fließen kann.

Die Furche: Welche Kanäle sind das?

Sauer: Es gibt sehr viele Institutionen in Berlin, die sich mit Literatur beschäftigen, auch mit experimenteller; Jandl und Mayröcker sind immer Fixstarter gewesen, auch H. C. Artmann, sie wurden hier fast mehr wahrgenommen als in Österreich. Auch Qualtinger war sehr beliebt.

Oder: das Burgtheater Claus Peymanns ist vor ein paar Jahren komplett hierher übersiedelt, mit seinen Schauspielern, seinen Ideen. Selbst die Programme werden in Berlin genau so grafisch gestaltet wie in Wien. Man darf aber auch nicht vergessen, dass in dieser katholisch-barocken theatralischen Welt, die Wien ist, das Theater eine andere Wertigkeit hat als in einem protestantisch-preußischen Umfeld.

Berlin ist auch nie sehr religiös gewesen, Berlin ist im Grunde eine agnostische Stadt. Hier haben Sie überhaupt keine religiösen Bezüge im Alltagsleben. Aber man ist - egal, ob jemand persönlich religiös ist oder nicht - an den protestatantischen Kriterien orientiert. Hier spielen das Buch, die Schrift - und das geht auch auf Luther zurück - eine wesentlich größere Rolle als die Schaukultur. Auch so etwas wie Karneval ist dem Berliner völlig fremd.

Die Furche: Hier gibt es statt des Karnevals die Love-Parade?

Sauer: Das ist sicher nicht wirklich ein Ersatz. Die Love-Parade gibt es jetzt seit 15 Jahren, es wird auch geklagt, dass sie zu sehr kommerzialisiert ist. Diesmal hatten sie nur mehr ein Drittel der Besucher, diese Dinge überleben sich rasch, da kommen immer neue. Es gibt den Christopher Street Day, der eine Manifestation der Liberalität ist, wo sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit zu ihrer Ausrichtung bekennen können. Da ist Berlin sicher der richtige Platz dafür, weil es eine Stadt mit einer langen liberalen Tradition ist.

Die Furche: Worin sehen Sie die vordringlichsten Aufgaben des Kulturforums?

Sauer: In Deutschland werden Kultur und Sprache immer sehr stark identifiziert, das heißt, viele Deutsche sehen alles, was Deutsch spricht, als deutsch an. Daher ist es eines unserer Anliegen, unsere kulturelle Identität erfahrbar und wahrnehmbar zu machen, das geht nicht nur über amtliche Kanäle, da muss man direkt ansetzen bei den Multiplikatoren. Und dann ist es ja auch unsere Aufgabe, Korrektive zu schaffen für die verbreiteten Klischees.

Die Furche: Apropos Klischees: gibt es den typischen Berliner?

Sauer: Die Berliner Bevölkerung hat sich im Laufe der Zeit stark verändert, schon Friedrich der Große hat gezielte Einwanderungspolitik betrieben. Hugenotten, Holländer, Russen wurden angesiedelt, das war auch ein Brain Drain. Das waren eigentlich Entwicklungshelfer, weil damals dieser Teil Preußens noch auf einer sehr bescheidenen Entwicklungsstufe war. Und auch in den letzten Jahrzehnten gibt es keine Stadt in Europa, die ihre Bevölkerung so oft gewechselt hat. Das jüdische Großbürgertum wurde ausgelöscht, durch die Flüchtlingswellen kam der nächste Bevölkerungsaustausch. Und dann, zur Zeit der Mauer, hat man den Leute, die hierher gekommen sind, Benefits angeboten: Steuerfreiheit, Studienplatz, man konnte umsonst telefonieren - es war ein Riesenprojekt in den sechziger und siebziger Jahren, Leute hierher zu locken. Es war ja eine komplette Insellage. Man konnte Berlin nur mit dem Flugzeug verlassen, mit Korridorzügen oder über die Interzonen-Autobahn. Man hatte die Sowjets in der Stadt, mitten drin die Mauer, es war für viele Berliner ein derartiges Angstszenario, dass sie weg wollten. Und da hat man mit allen möglichen Vergünstigungen versucht, Leute hier anzusiedeln, damit Berlin nicht ausstirbt. Deshalb sind die heutigen Berliner großteils keine Familien, die seit Jahrhunderten hier leben.

Die Furche: Viele kamen ja dann auch nach der Wende ...

Sauer: Ja, das ist die nächste Welle gewesen. Beamte mit den Ministerien und Leute, die die Goldgräbersituation des Neuanfangs hierher gelockt hat. In einigen Jahrzehnten wird die Stadtbevölkerung eine gewisse Identität finden, momentan ist Berlin ein Schmelztiegel. Alles ist unfertig, im Begriff des Werdens - wie das Stadtbild, die Architektur. Das kann auf Menschen, die den Anblick einer immer gleichbleibenden Stadtsilhouette gewöhnt sind, verstörend wirken. Und es gibt auch nicht die Geborgenheit einer Mitte. Wenn ich in Wien am Graben, am Stephansplatz stehe, dann weiß ich, hier ist ein Mittelpunkt, das hat alles seit Jahrhunderten seinen Platz. Und das gibt es in Berlin nicht. Da hat sich ständig alles geändert, ist alles im Wandel, es gibt Schichten, Überlagerungen, Zerstörung, Neuaufbau, Neuanfang.

Das Gespräch führte Sabine E. Selzer.

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