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Insel im roten Meer

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B erlin 1983: Den ersten Eindruck vermitteln die in diesen Wochen aus ihren Urlaubsorten im Bayrischen heimkehrenden Pensionisten, im einzigen Interzonenzug, der über Regensburg — Hof, die Transitstrecke durch die DDR durchquert.

„Insel im roten Meer“ — daran hat sich seit 35 Jahren nichts geändert, seit die Teilung der Stadtverwaltung, die Währungsreform die letzten Reste gemeinsamer Obrigkeit beseitigten, seit vor 22 Jahren die Mauer die Teilung hermetisch machte.

Die Inselneurose der Menschen, die sich scheinbar an das Unabänderliche gewöhnt haben, wird von

Jahr zu Jahr deutlicher. Die „Berliner Schnauze“, Ausdruck der durch Schnoddrigkeit getarnten Menschlichkeit, ist aggressiv geworden. Vor allem dann, wenn die wunden Punkte berührt werden, die die Inselneurose der Berliner nähren.

„Die von drüben“, aus der „Zone“, hassen sie unverhüllt. Wenn die Volkspolizisten zwischen dem Grenzort Gutenfürst und Leipzig die Ausweise kontrollieren, jedem einzelnen seinen Visumzettel — kostenlos — ausstellen, enorm umständlich, aber völlig exakt, dann spürt man die prickelnde Erwartung unvorhersehbarer Schikanen, die explosive Stimmung, die nur durch die Angst vor Repressalien zurückgestaut wird.

Und wenn dann die aus dem Fenster geworfene „Kippe“, der Zigarettenstummel, mit zehn D-Mark - „West“ natürlich - geahndet wird, dann hat man das Gesprächsthema, das bis mindestens Dessau unerschöpflich ist.

Wenn nur ein Bruchteil der Erlebnisse wahr ist, die der Berichtende selbst oder Bekannte im Umgang mit DDR-Behörden erlebt haben, versteht man den Haß.

Wenn sie alle nur der Inselneurose entstammen sollten, was kaum anzunehmen ist, wird diese umso deutlicher.

.Aber davon wissen ,die’ ja nichts!“ ist dann immer wieder die resignierende Schlußfassung. „Die“ - das sind die „Westdeutschen“, in Bayern, in Schwaben, bei denen man Urlaub gemacht hat und deren mangelnde Anteilnahme am Schicksal Berlins den Berlinern ins Herz schneidet.

Sie selbst, meist heute zwischen 60 und 70, leben noch in der Erinnerung an das Vorkriegsberlin, an Bombenkrieg und Wiederaufbau,

an Luftbrücke und Mauer. Je älter sie werden, desto stärker kehren die Erinnerungen zurück.

Auch im „Westen“ sind fast 40 Jahre seit Kriegsende vergangen, vier Jahrzehnte einer getrennten Entwicklung, die auch durch intensive Besuchstouren nur sehr beschränkt als gemeinsame anerkannt werden kann.

Für die Jungen im Westen ist Berlin weit weg, sind seine „heroischen Zeiten“, sind Namen wie Ernst Reuter und Louise Schröder längst Geschichte. Und das kränkt die alten Berliner.

Liegt darin eine Ursache, daß sie ihre Aggressionen auch gegen die in Berlin selbst versammelte Jugend richten? Sie anerkennen im Gespräch, daß, seit Richard von Weizsäcker regierender Bürgermeister ist, die Krawalle auf dem „Ku-Damm“ aufgehört haben, daß die Hausbesetzungen auf ein Drittel zurückgegangen sind.

Aber es braucht länger, um die Animositäten abzubauen, die sich in den wilden sechziger- und siebziger Jahren angesammelt haben. Damals, als Berlin zum Sammelpunkt aus der Bundesrepublik entfliehender Wehrdienstverweigerer und Chaoten wurde, die die Wände der Freien Universität in Dahlem verschmierten und die Schaufenster einwarfen und so gar kein Verständnis für die so anders gearteten Gefühle und Sorgen der eingesessenen Berliner zeigten…

Im Stadtsenat wie im Bundeshaus in der Bundesallee — wo alle Bonner Ministerien ihre Vertretungen sitzen haben, um die Verbindung nach Berlin nicht abreißen zu lassen - ist man sich dieser atmosphärischen Schwierigkeiten wohl bewußt.

„Die Stadt ist weder zu einem Freiheitsmuseum der Nachkriegsepoche erstarrt, noch als Drop- out-City jugendlicher Aussteiger zerfallen“, versichert ein hervorragend gestalteter Bildband, der Besuchern gerne überreicht wird.

Aber auch die offiziellen Sprecher können nicht verhehlen, daß die Mittelgeneration fehlt, abgewandert wegen der besseren Berufschancen im Westen. An ihrer Stelle stellen 200.000 Ausländer in der Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern ein immer schwieriger werdendes Problem dar — 120.000

unter ihnen sind Türken, deren Integration viel schwieriger ist, als die von Kroaten oder Spaniern. v

Neun bis zehn Milliarden D-Mark — gute 60 bis 70 Milliarden Schilling - schießt die Bundesregierung Jahr für Jahr an Hilfen für Berlin zu — aber die selbstbewußten Berliner rechnen dagegen: Wenn sie die in der Stadt aufgebrachten Steuern — gegen 12 Müliarden D-Mark — selbst aufbrauchen könnten, statt sie in den gemeinsamen Topf einzubringen, kämen sie besser weg. Kann diese Argumentation nicht eines Tages die These des Ostens von der „eigenen Einheit Westberlin“ untermauern?

Wie auch immer, Landes- und Bundesbehörden sind gemeinsam bemüht, die Situation zu meistern. In den letzten zwanzig Jahren wurde das U-Bahnnetz (im Westen) verdoppelt, zwei neue Linien durch die Stadt gezogen, die andern in die Peripherie verlängert.

Ist es nur Zufall, daß aus den modernen U-Bahn-Wagen die kessen Reklameverse verschwunden sind, die einst so typisch für Berlin waren: „So wichtig wie die Braut zur Trauung, ist Bullrich- Salz für die Verdauung…" Nichts mehr dergleichen. Ist den Berlinern der Humor verlorengegangen?

In den Nachtlokalen des Zoo- und Kurfürstendamm-Viertels grölen die Besucher aus dem Westen noch um sechs Uhr früh — es gibt keine Sperrstunde — „Warum ist es am Rhein so schön… “. In den Kneipen, der U-Bahn, im Kaufhaus dominiert der Berliner Tonfall wie kaum mehr heute in München das Bayrische, in Köln das Rheinische.

Aber in der Heidelberger Straße in Neuköln werfen türkische Kinder ihre Bälle gegen die Mauer, die 162 Kilometer lang den westlichen Teil Berlins einschließt. Insel im roten Meer…

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