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Die Hauptstadt auf Widerrruf

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Oftmals bin ich um diese Zeit entlang des Rheins gegen Westen gefahren, und immer gewann man den Eindruck einer grauen, glanzlosen Landschaft, an deren Nähten Hügeln und Felsen nur mit Mühe verhindern, daß Fluß und Himmel ohne jedes Aufheben ineinander verfließen. Diesmal ist die Luft glasklar,-das Firmament von lichtestem Blau, und es . geht einem wie bei den Abziehbildern der Kindheit, wenn man das nasse, müde Papierhäutchen wegschob und darunter die Farben zum Vorschein kamen. Denn, mit einemmal gibt es überall Farben, über alle Ufer und Hänge rieseln-sie, Gelb und Braun und Grün und Rotbraun, selbst das Grau ist warm und-samten’ geworden.

Aber noch ehe man Bonn erreicht hat, hülle der schwere Atem des Rheins wieder alles ein.

Bereits beim Verlassen des kleinen, immer vollen und geschäftigen Bahnhofs verspürt man den ersten Anhauch der Problematik dieser Hauptstadt auf Widerruf. Der Steinmund einer alten Geschäftsstraße, in der einst die Bonner Studenten und der rheinische Adel der Umgebung ihre Einkäufe machten, tut sich vor einem auf, aber es dauert: eine ganze Weile, ehe man Ob des pausenlosen Verkehrs hinüber-- :kann.i So prägt sich einem die nächste Umgebung ein. Neue Bus-Schilder: „Bundeshaus“

und „Heliokopter-Landeplatz“;. dahinter, wo’ nur ein wenig Platz ist, Neubauten. Ein allzu mächtiger Blutstrom durch allzu schmale, schon ein wenig verkalkte Arterien. Aber im Grunde ist es erstaunlich: wie gut alles geht. Wie tadellos es funktioniert, ja däß man so etwas überhaupt machen kann: die Hauptstadt eines großen Volkes von heute auf morgen in einem kleinen, etwas verschlafenen Universitätsstädtchen am Rande eines großen Flusses zu installieren. „Vielleicht ist unsere Vorstellung von Verwaltungszentren und Hauptstädten ein wenig überholt“, sägt mir ein Abgeordneter.

,¡Vielleicht wird der Zusammenschluß Europas innerhalb der historischen Staaten ein gewisses Maß von Dezentralisation ermöglichen, so daß wir im deutschsprachigen Raum verschiedene Strahlpunkte haben können Etwa Köln für den Westen, Berlin für den deutschen Osten und ein unabhängiges Wien für den Südosten.“ Und mit einer Vorsicht, der ich hier nicht zum erstenmal begegnet bin, fügt er hinzu: „Doch wäre es mir.lieber, Sie würden mich in diesem Zusammenhang nicht zitieren, wer sich nicht ans alte Konzept von Berlin als Reichshaüpt- stadt klammert, wird leicht als Abtrünniger gebrandmarkt.“

Ich muß gestehen, daß ich mir unter diesem Konzept der Strahlpunkte nicht allzu viel vorstellen konnte, und wer sich in Bonn umsieht, der kann sich zunächst einmal schwer des. Eindrucks erwehren, daß hier, vielleicht wider Willen; aber doch mit mächtigem Schwung, ein großes Verwaltungszentrum alter Art aus dem Boden sjestanrpft wird. ‘ ;

Das Antlitz dieser Stadt hat sich in wenigen Jahren weitgehend verändert, und noch immer ist alles in Bewegung und Gestaltung Rudel von Baukränen haben sich um das Bundeshaus geschart, wo ein politisches Zentrum entsteht, an das die Friedrich-Ebert-Allee alias Coblenz- straße wie eine endlose Tangente gelehnt ist. die immer rascher von gewaltigen Neubauten umfaßt Wird. Zum erstenmal wird hier in Deutschland ein neuer Baustil vorexerziert. Das Reichskanzleiempire ist vom Aquarium-Biedermeier mit seinen überdimensionalen, durch Stahlbetonrippen zusammengehaltenen Glasflächen abgelöst worden. Werden die richtigen

Farben gewählt was leider nur selten der

Fall ist — und kommen die funktioneilen Bauelemente, wie etwa die Treppe, richtig zum Durchbruch so entstehen recht anziehende Schöpfungen. Gewiß sind Elemente dieser Bauweise auch anderswo anzutreffen, aber hier sind sie massierter, verschrhelzender, e ist schwieriger, sich ihrem Einfluß zu entziehen.

Recht kennzeichnend etwa, daß auch die britische Botschaft, oder wie man jetzt noch sagt, das britische Hochkommissariat (der Titel High Commissioner wird wohl wegen der Sonderstellung Berlins auch nach der Ratifizierung der Verträge nicht ganz verschwinden), die unter den Auspizien des „Ministry of Works", gebaut und von englischen Architekten entworfen wurde, sich dem vorherrschenden Stil völlig angepaßt hat, ja auch den häufigsten deutschen Fehler, die Furcht vor kräftigen

Farben! getreulich kopiert. Auch die allgemeine

Situation Bonns spiegelt sich in der britischen Botschaft, Friedrich-Ebert-Allee 77, getreulich wider: Kaum vollendet, erwies sie sich zu klein, so daß man dabei ist, „provisorische Zusatzbauten“ aufzuführen.

Entspricht im übrigen der Baustil, wie wir ihn hier sehen, diese immer weitergehende . Freilegung von lohn- und Arl?eitsjraum . einer segliscbpn La e-, des gegenwärtigen Menschen zu seiner Umwelt? Soll die in der freien Welt stets drohende Einsamkeit schon, rein optisch durchbrochen werden, kann der von Fragebögen endlos gequälte und bis zur Neige getestete Mensch schließlich ohne dauerndes Umspültwerden einer von außen kommenden Neugier nicht mehr existieren? Wir stehen den

Dingen wohl allzu nahe, um mit Sicherheit anworten zu können. Aber es macht einen unwillkürlich nachdenklich und läßt die zwingende Kraft der Motive sehr stark erscheinen, wenn nicht einmal die Bauherren des „Roten- Kreuz"-Palastes, der nahe der britischen Botschaft aufgeführt wurde, Männer also, die stets an die dunklen Möglichkeiten unserer politischen Existenz zu denken haben, die eindrucksvollen Erfahrungen des letzten Krieges berücksichtigen. Niemand scheint sich zu sagen, daß all die neuen Bauten, sollten nur einige Bomben in der Nähe einschlagen, von ihren Bewohnern, so sie den Splitterorkan überlebt haben, preisgegeben werden müßten. Es wäre interessant, einem Gespräch beizuwohnen, das die hierfür verantwortlichen Architekten mit jenen führen würden, die etwa das fensterlose Admiralitätsgebäude in London, oder das mit gewaltig verstärkten, ebenfalls gegen die wahrscheinliche Gefahrenrichtung fensterlose New- Yorker Spitalsgebäude entworfen haben. Die Menschheit scheint zwischen Flakturm und Aquarium wie zwischen Tempeln von Furcht und Hoffnung hin und her zu irren.

Zweifellos verliert jedoch die böse Vergangenheit des Krieges immer, rascher an Wirklichkeitseehalt. Wer vom Bonner Bundeshaus mit der Tram zum Bahnhof fährt, kommt noch an vereinzelten Ruinen des Luftkrieges vorbei. Die von Neonlicht geblendeten Augen nehmen sie kaum noch wahr, man muß sich zwingen, diese Stätten der Zerstörung zu erkennen, und sie sehen auf einmal unheimlich alt und vergessen aus. Man hat das Gefühl, daß irgendeinmal, in einer längst vergangenen Nacht, die Schatten der Erschlagenen, der Verbrannten und. Erstickten ausgezogen sind, um nicht wiederzukehren. Während das Vergangene also plötzlich an Kraft verloren hat, schafft sich die Zeit eine andere, besser zu ihr passende Furcht. Aus dem Nebel, der über den feuchten Riesenbändern der Autobahn liegt, steigt die Gestalt des modernen „Highway man", des Autobahngangsters, der aus dem Nichts kommt, ins Nichts verschwindet und in amerikanischen Zeitungen ausführlicher behandelt wurde als Pariser Vertrag und Saarabkommen.

Die Frage, weleher Teil des Lebens und der in ihm entfalteten Aktivität der Neugier preisgegeben werden darf, beschäftigt indes in Bonn die Diplomaten und Politiker noch mehr als die Architekten. Ja, man wird nicht fehlgehen, das Problem staatspolitischer Verschwiegenheit zu den wichtigsten der Bundeshauptstadt zu zählen, nimmt es doch mit dem Eintritt in den Atlantikpakt weltweite Dimensionen an. Während man nämlich bei der mittleren Schicht der Beamtenhierarchie noch dann und wann auf eine muffige, pressefeindliche Einstellung stößt, die alles und jedes „sekretieren“ möchte (aber das wird seltener), herrscht in Sektoren der politischen Führungsgarnitur eine Neigung zur Indiskretion, die manchmal nachgerade an Exhibitionismus grenzt. Die Tatsache, daß die FDP zwar in der Regierung sitzt, aber durch einen so wenig ausgeglichenen und seines eigenen Weces bewußten Mann wie B-F’er im Lande Oppositionspolitik um jeden Preis betreibt, mag diesen Zustand verschärft, aber es dürfte ihn nicht gerade geschaffen haben. Auch die Bemerkung, die ich in diesem Zusammenhang von einem hohen Beamten hörte: „Die Indiskretionen des .Spiegels’ werden eine immer ernstere politische Belastung“, verwechselt das Symptom mit der Krankheit. Der „Spiegel" (dem amerikanischen „Time“ nachgebaut) ist nämlich im Grunde besser und bei der Ueberprüfung seiner Nachrichten viel gewissenhafter als sein Ruf, und man muß dies auch dann festhalten, wenn man seinen außenpolitischen Ton für etwas unglücklich hält. Auf Claus Jacobi, der für die Bonner Redaktion verantwortlich zeichnet — und der zweifelsohne zu den begabtesten deutschen Journalisten überhaupt gehört —, aber muß sicher das alte Wort Oscar Wildes’ angewendet werden, daß nicht die Fragen, sondern die Antworten indiskret sind. Viele aber, die selbst über den „Spiegel" lästern, täten gut, sich selbst dann und wann die Schneewittchenfrage zu stellen, wer eigentlich „der Indiskreteste im ganzen Land sei “

Wenn also weder eine bestimmte Gruppe noch auch die Journalisten verantwortlich sind, so erscheint das Phänomen ein wenig uner- klä-,: -h. Im Grunde ist es aber wohl so, daß K die Traditionslosigkeit der Bonner Manageratmosphäre (von dem Patriziertum Aden-auers für viele verdeckt, mit der Naivität der reeducation zusammengestoßen sind, derzufolge alles möglichst „offen“ und „demokratisch“ zugehen sollte, so daß man zwar einen gewissen Schutz gegen den Verrat, aber keinen Schutz gegen das Ausplaudern, etwa nach dem englischen „Official Secrets Act“ geschaffen hat. Eine andere, seltener beobachtete Folge der Traditionslosigkeit scheint in der Ueberforde- rung der richterlichen Autorität gelegen zu sein. • Das sozialistische Spiel, die Entscheidung über die EVG de facto dem Hohen Gericht in Karlsruhe aufzubürden, ist inzwischen in unrühmliche Vergessenheit gefallen; aber es hat scheinbar keinesfalls ernüchternd gewirkt. Kaum war nämlich der Kanzler aus Paris zurück, als Dehler von der FDP den Gedanken ventilierte, auch das Saarabkommen in Karlsruhe bekämpfen zu wollen! Man hat zwar den Eindruck, daß dieser Gedanke inzwischen wieder fallen gelassen wurde, aber es ist trotzdem kennzeichnend, daß er geäußert werden konnte. Noch dazu von einem Koalitionspolitiker! Diese beiden Versuche sind ja nur der Mantel eines sehr vielschichtigen Phänomens, und es ist kein Zufall, daß der seinem Wesen nach rein politische und nun auch politisch gelöste deutsch-österreichische Disput über die Staatsbürgerschaftsangelegenheit von einem richterlichen Entscheid seinen Ausgang nahm. Andere Beispiele der allgemeinen „Ap pellationsfreudigkeit“ lassen sich unschwer finden. Angesichts des umstrittenen „Schießbefehls" des Innenministers von Nordrhein- Westfalen (der zur Folge hatte, daß auf der Autobahn sehr rasch fahrende Wagen, die ihre Geschwindigkeit trotz Haltezeichen nicht verminderten — wozu einen viele Gründe veranlassen können — scharf beschossen wurden) hat der Kronjurist der SPD, Arndt, einen Antrag an die Oberstaatsanwaltschaft in Düsseldorf weitergeleitet, der als „Strafantrag“ interpretiert wurde. Wäre nicht eine Anfrage im Bundeshaus die dem Abgeordneten natürlichere Domäne gewesen? Der Innenminister aber erklärte zunächst, „er könne erst nach sorgfältiger Prüfung des Wortlautes entscheiden, ob er seinerseits eine gerichtliche Verfolgung Arndts (!) wegen Verleumdung beantragen werde!“ Auch dieser peinlichen Entgleisung liegt ein im Grunde erfreulicher Tatbestand zugrunde. Das richterliche Ansehen hat das Dritte Reich beinahe am besten überstanden, weil der durchschnittliche Richter dem NS- Geist kaum Konzessionen gemacht hat. Ja die richterliche Autorität ist die einzige, die kontinuierlich, die „authentisch“ geblieben ist, an ihre väterliche Weisheit wendet man sich daher fast instinktiv in allen verzwickten, unübersichtlichen oder peinlichen Lagen.

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