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Ruckkehr nach Brunn

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DIE ATMOSPHÄRE AN DER TSCHECHISCHEN Grenze hat sich gründlich geändert. Verschwunden sind die abweisenden Gesichter, lachende, strahlende Mienen begrüßen den Einreisenden. Gewiß ist die Änderung angeordnet, doch scheinen in diesem Fall die Intentionen der Regierung mit denen der Grenzbeamten übereinzustimmen, denn die freundlichen Gesichter sind zweifellos nicht aufgesetzt, sondern entsprechen durchaus den Gefühlen der Grenzbeamten gegenüber den österreichischen Nachbarn. Nachdem die Formalitäten rasch erledigt worden sind, geht die Fahrt zunächst ein Stück durch Nikolsburg. Diese erste südmährische Stadt vermittelt keine spezifischen Aufschlüsse über die Situation im Lande. Die Häuser wie die Bewohner scheinen etwas ärmlicher als ihre Nachbarn auf der niederösterreichischen Seite. Die Straße nach Brünn ist gut. Auch die Ortschaften, die man weiterhin passiert, bestätigen den ersten etwas unpräzisen Eindruck. Ungewohnt wirken die großen landwirtschaftlichen Anlagen, die offenbar den Kern der Kolchosen bilden. Die Menschen winken: die Kinder an den Straßen, die Arbeiter auf den Traktoren oder Lastautos. Österreich wird willkommen geheißen.

DIE NÄHE BRUNNS KÜNDIGT sich durch stärkeren Lastverkehr in. Doch scheint man hier auch mit Lastkraftwagen sparsam umzugehen. Sie wirken mehr als gebraucht. Man ivird sich nun bewußt, wie schmal 3ie Straße ist. Sobald die Vororte ?rreicht sind, gerät man freilich in Sefahr. Sobald man nämlich das *elbe Kaiserpflaster unmittelbar vor Brünn verlassen hat, rettet nur ;ine drastische Reduktion der Geschwindigkeit das Auto vor dem Zerfall. Die Straße nimmt den Charakter eines Ackers an, freilich eines mit Steinen gepflasterten, und äas wirkt verschärfend. Mit den Straßenbahnen begegnet man den ersten vertrauten Erscheinungen. Wie gut müssen sie einst gebaut worden sein. Sie wirken noch heute ordentlich und vor allem wesentlich solider als ihre Nachfahren neueren Erzeugungsdatums.

Auf die Frage, ob sich Brünn in rlen letzen beiden Jahrzehnten verändert habe, läßt sich keine eindeutige Antwort geben. Die Stadt teilt sich heute in zwei säuberlich voneinander getrennte Bereiche oder besser Ringe. Der äußere setzt sich aus den zahlreichen Neubauten zusammen, über deren Qualität sich natürlich nicht urteilen läßt, solange man die Wohnungen nicht gesehen hat. Da aber gesetzlich jeder Person nur zwölf Quadratmeter Wohnraum zustehen, kann man vermuten, daß die Wohneinheiten zumindest nicht überdimensioniert sein dürften. Was die Fassaden anbelangt, zeigen besonders die aus der letzten Zeit ein durchaus gefälliges, wohl nicht weit unter dem europäischen Durchschnitt liegendes Äußeres. Daß sie beträchtlich schöner sind, als das meiste, was in Österreich entsteht, versteht sich von selbst, denn es gibt im Norden und Süden, Westen und Osten heute kein Land auf der ganzen Welt mehr, in dem sq miserapei geoaut wird wie in Österreich. (Ebenso sind die Plakatwände, verglichen mit den unseren, ein Labsal. Ein solch vulgärer, knalliger Naturalismus wie bei uns ist in diesem Land nicht mehr denkbar, wiewohl dessen Kunst angeblich noch immer unter dem Diktat des „sozialistischen Realismus“ steht!)

DER INNERE RING, der Stadtkern im weiteren Sinn, hingegen sieht heute fast genau so aus wie 1945. Damit ist nicht nur gemeint, daß keine neuen Häuser anstelle der alten getreten sind, sondern daß auch an diesen buchstäblich nichts geändert wurde. So ist der erste Eindruck, den man von der Stadt erhält, der der abbröckelnden Fassaden. An vielen Häusern sind noch heute die Spuren der Bombensplitter zu sehen. Ebensowenig wurden die Straßen angerührt, die sich vorwiegend in dem bereits oben geschilderten Zustand befinden. Nur dort, wo neue Straßenbahnlinien gelegt wurden, kann man es wagen, etwas schneller zu fahren. Auch die schönsten alten Teile der Stadt (ein spätgotisches Rathaus) zeigen sich ebenso verwahrlost wie die übrigen. Die Restaurierungsarbeiten lassen sich sehr schüchtern an. Man hört allerdings, daß sie nun etwas rascher vorangetrieben werden.

Die Stadtverwaltung hat mehrere Straßenzüge in der Innenstadt für den Verkehr gesperrt und dort Geschäfte konzentriert. Damit entstanden Fußgängerpassagen, die sich schon heute, trotz des recht schütteren Autoverkehrs und eines ebensolchen Warenangebotes recht angenehm auswirken, besonders an Sonntagen, an denen vormittags die Geschäfte offenhalten. Auch auf dem Gebiet des Massenverkehrs rationalisierte die Stadtverwaltung erfolgreich: die Straßenbahnen fahren ohne Schaffner; die Fahrscheine werden einem Automaten im Waggon entnommen. Eine Maßnahme, zu der sich etwa die Gemeinde Wien trotz würgenden Personalmangels nicht entschließen kann. (Jedenfalls eine nicht sehr schmeichelhafte Einschätzung des eigenen Wahlvolkes.)

DIE — ZUMINDEST IM.GESTUS — überschwengliche Freundlichkeit der Landbewohner ist in der Stadt

— soweit dies eben bei einem zweitägigen Besuch beurteilt werden kann — einer korrekten, aber kühlen Höflichkeit gewichen. Vereinzelt klagt man dem Vernehmen nach, daß in Brünn wieder Deutsch gesprochen werde, Kellner wie Verkäufer bemühen sich allerdings alle, diese Sprache zu gebrauchen. Scheue, kurze Blicke messen den relativ gut angezogenen Österreicher. Gerade die Kleidung der Menschen hinterläßt das bedrückendste Gefühl. Die einstmals so eleganten oder zumindest „feschen“ Tschechen, die es auch noch im Krieg verstanden hatten, ihr anziehendes Äußeres zu bewahren, präsentieren sich als unkonturierte, graue Masse. Grau selbst dort, wo sie grelle Farben tragen. Dem einst agilen, fleißigen und verantwortungsbewußten Volk wurde jede Initiative ausgetrieben, ihm bleibt nichts als die Resignation. Wer noch selbst beobachten konnte, wie nach dem — einzigen größeren — Luftangriff im Jahre 1944 die Menschen ohne jede Aufforderung aus den Häusern strömten, um blitzschnell Trichter einzuebnen, Gehsteige und Vorgärten zu richten, steht erschüttert vor den total vernachlässigten Häusern. Gewiß, diese sind nicht Eigentum der Bewohner, das waren sie früher aber auch sehr selten, aber die Leute hatten das Bedürfnis, in einer ordentlichen Umgebung zu leben, ein Bedürfnis, dem die allgemeine Resignation keinen Raum gibt. Nur die Jugend scheint dynamischer zu sein. Sie sind die bunten Flecken im Grau der Älteren. Die Kleider sind aus miserablen Stoffen, aber man bemüht sich um modischen Schnitt, um wenigstens darin mit dem Westen Schritt zu halten.

NUN IST DER LEBENSSTANDARD der Tschechen zweifellos nicht so trist, wie der Anblick ihrer Fassaden. Das Monatsdurchschnittseinkommen beträgt nach der Statistik rund 1500 Kronen, also rund zwei Drittel des österreichischen, wobei man die Krone in ihrer Kaufkraft etwa mit 1.30 Schilling gleichsetzen kann. Das entspricht etwa den Lebensverhältnissen in Österreich Anfang der fünfziger Jahre. Familienväter kommen mit diesem Einkommen recht schlecht durch — nicht zu reden von den Rentnern, die natürlich viel weniger erhalten. Wenn aber in einer Familie mehrere Mitglieder arbeiten, dann kommt man sogar in die Lage, sich ein Auto anzuschaffen. So werden die _Brünner Straßen nicht nur von reizenden Autoveteranen bevölkert, sondern auch noch von recht zahlreichen nagelneuen Skodas, die offenbar heuer in größerer Zahl im Inland erhältlich waren. Sie kosten ebensoviel wie hier. Das Angebot an Textilien und Bekleidung ist zwar ausreichend, aber von unbeschreiblicher Qualität und geringster Auswahl. Plötzlich auftauchende Artikel, die außerhalb des Gängigsten liegen, führen sofort zur Bildung einer Schlange und sind in Kürze ausverkauft. Lebensmittel kommen in jüngster Zeit in größerem Umfang und besserer Qualität auf den Markt. Kolonialwaren nur in dem Ausmaß, als die CSSR gezwungen ist, für ihre Maschineniieferungen an Entwicklungsländer deren Produkte abzunehmen. (So gibt es kubanische Zigarren in Hülle und Fülle.) Technische Artikel sind ausreichend vorhanden, über die Qualität läßt sich durch Betrachten natürlich nichts aussagen. Die Möbel sind im allgemeinen geschmacklos und schäbig. (In ersterem unterscheiden sie sich freilich kaum von den meisten in Österreich hergestellten.)

Obgleich also der Durchschnittstscheche sein Auskommen hat, fragt sich natürlich, wie es ein Staat, dessen Nationalprodukt pro Kopf vor dem zweiten Weltkrieg ungefähr in der Größenordnung des österreichischen lag, der durch Kriegshandlungen kaum zerstört wurde und eine glückliche Wirtschaftsstruktur aufwies (Landwirtschaft, Bodenschätze, Leicht-, Mittel- und Schwerindustrie), angestellt hat, seinen Bürgern einen vergleichsweise derart miserablen Lebensstandard zu bieten.

NUN IST EIN REISEBERICHT gewiß nicht der Ort für detaillierte ökonomische Untersuchungen, aber einige Gedanken, die möglicherweise durch genauere Informationen korrigiert werden müßten, drängen sich angesichts der tschechischen Situation doch auf. Die Malaise scheint systembedingte und politische Ursachen zu haben. Dem System ist die katastrophale Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion zuzuschreiben, eine im ganzen Ostblock — außer Polen — durchaus bekannte Erscheinung. Ferner dürfte durch die schon erwähnte erfolgreiche Ausrottung jeglicher Initiative die Arbeitsproduktivität tiefer liegen, als sie es unter normalen Umständen wäre.

Daß ferner das starr gehandhabte System der zentralen Planung mehr als problematisch ist, wird ja von seinen Trägern heute dadurch selbst zugegeben, daß sie energisch versuchen, neue Wege, besonders im Hinblick auf marktwirtschaftliche Auflockerung, zu beschreiten. Ein quantitativ heute nicht erfaßbarer politischer Faktor dagegen dürfte früher in Lieferungen an die UdSSR zu aufgezwungenen Verlustkursen gelegen sein. Freilich einer, der nicht überschätzt werden sollte. Viel stärker fällt der Umstand ins Gewicht, daß der CSSR eine Schlüsselposition in der Entwicklungshilfe des Ostblocks zukommt, was die tschechische Wirtschaft wahrscheinlich sehr belastet. Allerdings könnte dies, sobald die tschechische Regierung dieselbe Energie gegenüber der UdSSR und dem Comecon zeigt wie etwa die rumänische, rasch geändert werden. Das größte Gewicht freilich kommt dem Entschluß der Regierung zu — das Volk wurde dabei ja nicht gefragt —, den Löwenanteil der Investitionsmittel in die Grundstoff- und Maschinenindustrie zu stecken. Wiewohl man den tschechischen Wirtschaftsstatistiken mißtrauen soll (so wird groteskerweise für die letzten Jahre ein höherer Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch angegeben als in Österreich, obwohl die meiste Zeit des Jahres dieses in der CSSR bis vor kurzem überhaupt nicht zu haben war), dürften sie doch diesen Trend einigermaßen richtig wiedergeben. So werden sehr hohe Verbrauchsziffern für Energie, Stahl und so weiter angegeben. Es stünde also auch hier im Belieben der Regierung, den bisher eingeschlagenen Weg zu ändern, was wieder dem Trend des ganzen Ostblocks entspräche. Die Forcierung der Investitionsgüterindustrien sollte — zumindest nach Chruschtschows Ansicht — den Rückstand in der Konsumgüterproduktion und damit des Lebensstandards künftig überkompensieren. Diese Auffassung vertreten zwar auch einige westliche Nationalökonomen, allerdings nur für die Entwicklungsländer, zu denen die CSSR freilich nicht zählt.

SO VERFLIESSEN DIE ZEITEN für den Besucher ineinander. Für den in Brünn Geborenen war es ein Blick in eine — äußerlich — kaum veränderte Vergangenheit, für den Beobachter der politischen Verhältnisse hingegen ein solcher in die Zukunft; ein Blick auf die Verhältnisse zur Stunde Null in einem kommunistischen Land, das ebenso wie der ganze Ostblock — außer China — darangeht, einen neuen politischen Weg einzuschlagen, einen, der, wie es scheint, sich unseren Auffassungen nähert, der die Wohlfahrt des Individuums und dessen Bewegungsmöglichkeiten stärker zum Ziele hat als bisherl

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