Berliner Mauer - © Foto: Pixabay

Ossi, Wessi oder deutsches Kind?

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Besuch in zwei Schulen, eine im früheren West-, die andere im ehemaligen Ost-Berlin. Und Gespräche über das gemeinsame und getrennte Deutschland mit Wessi- und Ossi-Schülern, die so alt sind wie die wiedervereinigte Bundesrepublik - 15 Jahre.

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Besuch in zwei Schulen, eine im früheren West-, die andere im ehemaligen Ost-Berlin. Und Gespräche über das gemeinsame und getrennte Deutschland mit Wessi- und Ossi-Schülern, die so alt sind wie die wiedervereinigte Bundesrepublik - 15 Jahre.

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Leicht entnervt schaut Johannes von der Schulbank hoch. "Man sollte nicht so unterscheiden, die kommt aus dem Osten, die aus dem Westen, weil beides seit 15 Jahren einfach keine Rolle mehr spielt. Von dem Thema sollte man endlich mal runterkommen", sagt er. "Ja", fügt Maike hinzu, "dafür ist die Einigung ja da, damit das nicht mehr ist."

Johannes und Maike sind 15 Jahre alt. Sie wurden im Jahr der deutschen Einheit geboren. Das geteilte Land ihrer Eltern kennen sie nur aus Erzählungen, dem Fernsehen, dem Unterricht - alles gleichermaßen fern von ihrem Alltag wie der 30-jährige Krieg. Die beiden gehen ins Kant-Gymnasium in Berlin Spandau, früheres Westberlin. Julia, Franziska, Florian und Inge wiederum besuchen die Immanuel-Kant-Oberschule in Lichtenberg, vor der Wiedervereinigung das Zentrum von Ostberlin. Zwei Schulen in einer Stadt, in ehemals geteilten Bezirken. Nur eine Stunde Fahrtweg trennt die Gebäude. Dazwischen liegen Welten. Vom Unterschied zwischen Ost und West aber wollen alle Schüler nichts mehr wissen. Und doch prägt er sie noch immer. Oder schon wieder.

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Sie sind wie das Spiegelbild eines Deutschlands, das erst vor wenigen Wochen die Mauer im Bundestagswahlkampf zurück polemisierte. Von frustrierten Ossis war die Rede, von Wessis, die immer alles besser wissen, von falschem Demokratieverständnis, von Undankbarkeit und Ungleichheit.

Subtile Gräben

Das Land, das am 3. Oktober vor 15 Jahren mit einer riesigen Jubelfeier seine Vereinigung beging, ist noch immer von tiefen Gräben durchzogen. Einige davon sind offensichtlich. So gibt es viel mehr Arbeitslose im Osten als im Westen, das Durchschnittseinkommen im Osten liegt bei 80 Prozent dessen, was im anderen Teil verdient wird, und die Unterschiede werden gar politisch zementiert. Die Höhe des Arbeitslosengeldes ist für Ost und West verschieden festgelegt worden. Hinzu kommen die subtilen Gräben, Urteile und Vorurteile, die im Unbewussten wirken.

Ob sie Wessis seien, werden die Spandauer gefragt. "Jjja", kommt zögerlich die Antwort, rein geografisch. Aber sonst spielt das keine Rolle. Im Klassenraum des Spandauer Kant-Gymnasiums ist es unruhig. Ein Interview über die deutsche Einheit. Was sie da bloß erzählen sollen? "Für uns Jugendliche ist das nicht so wichtig, ob wir jetzt im Osten gewohnt haben oder im Westen, weil wir noch sehr klein waren, aber für die Erwachsenen, glaube ich, schon. Ihre Erinnerungen kommen aus dem Osten oder Westen", sagt Maike. Aber merkt ihr denn Unterschiede in der Stadt? Eine Frage wie Zündstoff. Ehe sie sich's versehen, stecken sie mitten drin in der Ost-West-Diskussion: "Ich denk' immer, im Westen ist alles ordentlich, schöne Straßen, Wälder, Blumen, Wiesen. Und im Osten dann so Jugendgangs, eingeschlagene Fenster, beschmierte Häuser", fällt Maike sofort ein. Und Anja stimmt zu: "Ja, da sind auch die Farben immer so komisch. Grau und Trübsal."

"Rüberfahren ist Quatsch"

Das Bild ist klar, das von sich selbst und von den anderen. Rüberfahren ist Quatsch. "Was soll man denn da? Da ist ja nichts", meint Katarina. Westberlin geht bis dahin, wo es Einkaufsstraßen gibt, große Plätze und Leute. Da wird der Alex mit seinem Fernsehturm, zentraler Platz von Ostberlin, auch mal schnell dazugezählt. Wo die Mauer entlang lief? Sie malen auf dem Tisch, stellen sich Berlin vor, das u-Bahn-Netz, das von Ost nach West bringt. Aber die Kenntnisse sind diffus. Eingeteilt wird nach Erfahrungen, nicht nach Wissen. Marzahn, ein typischer Ostberliner Bezirk mit sozialistischen Plattenbauten, muss im Westen liegen. "Mein Vater arbeitet dort", begründet Anja, und der ist Wessi. Und Kreuzberg, die Westberliner Hochburg der Aussteiger und Alternativen, wird dem Osten zugezählt. Die Motive: "Da sind so schlimme Sachen, viele Schlägereien, Alkohol", sagt Anja. "Voll viel die Drogendealer", fügt Johannes noch hinzu.

Am anderen Ende der Stadt, in der Lichtenberger Kant-Oberschule, stecken die Schüler Kreuzberg auch in den Osten. Doch ihre Gründe sind ganz andere. "Die Menschen sind da viel lockerer. Im Westen, da kommt es mir immer so vor, sind die Leute total angespannt. Immer nur Stress, Arbeiten. Und Arbeiten kotzt mich an, Hauptsache, ich verdien' total viel. Aber in Kreuzberg sind die Menschen ja locker", meint Julia. Überhaupt der Westen, das sind die Anzugträger, die teuren Länden, die Shoppingmöglichkeiten, ein höheres Gehalt. "Also, am besten im Westen arbeiten und im Osten wohnen. So kriegt man das meiste Geld", sagt Franziska leicht spöttisch.

Vor allem die Schüler im ehemaligen Osten werden damit konfrontiert, dass ihre Umwelt sie in die alten Kategorien zwängt. Es ist nicht nur die arbeitslose Mutter, die erzählt, dass ihr Leben vor der Wende viel besser war. Oder der Vater, der darüber aufklärt, dass alles für den Osten zu schnell ging. "Man merkt ja auch heute noch viele Unterschiede, auch durch die Medien und Politiker", stellt Inga fest. Florian ist davon genervt. "Irgendwer hat mal versucht, mich als Ossikind abzustempeln, und da hab ich gesagt, nö, bin ich nicht. Ich bin geboren, nachdem die Mauer gefallen war, und da war die ganze Nummer eigentlich schon gelaufen. Ich leg' immer viel Wert darauf, gesamtdeutsches Kind zu sein", sagt er.

Vor allem die Schüler im ehemaligen Osten werden damit konfrontiert, dass ihre Umwelt sie in die alten Kategorien zwängt.

Und doch bekommen die Jugendlichen aus Lichtenberg schon alleine durch ihre Familie eine ganz andere Prägung mit. Ihre Eltern haben noch den direkten Vergleich. "Ich weiß ja nicht, wie es damals war, aber jetzt ist das System doch auch nicht so überragend", sagt Elisa. Und Florian würde gerne den goldenen Mittelweg zwischen dem Früher und dem Heute suchen.

Das frühere System. Geschichtsstunde in Spandau. Seit zehn Minuten herrscht konzentrierte Stille, Blätter rascheln, gerunzelte Stirnen. Die Schüler lesen Texte über die DDR. Der früher sozialistische Teil Deutschlands ist für sie ein fremdes Land wie China oder Indien. Die Rede ist von "denen da", egal, wer spricht. Weder im Osten noch im Westen wird die ddr von den Schülern als ein wesentlicher Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen.

Wie die Weimarer Republik

Immer wieder kommen leise Fragen zu Begriffen wie Sozialismus, Politbüro oder der Jugendorganisation fdj. "So, ich schlage vor, es lesen alle bis zum Ende, und dann machen wir es noch einmal zusammen", unterbricht Lehrerin Barbara Flieger. Die Schüler antworten mit befreitem Lachen. Die Lehrerin weiß, dass sie die Trennung Deutschlands und seine Vereinigung genauso erklären muss wie die Weimarer Republik oder die beiden Weltkriege.

Ihre Kollegin Maritta Neumann in Berlin-Lichtenberg macht die gleiche Erfahrung. "Wenn man Ostthemen behandelt, ist auffällig, dass manchmal das Befremden über die Art und Weise, wie die Leute im Osten gelebt haben, größer ist als über das Zeitalter des Barock. Also, der Osten ist für sie emotional weiter weg als andere Geschichtsepochen. Es irritiert sie, und ich glaube, es irritiert sie auch deshalb, weil es die Geschichte der Eltern ist", sagt Neumann.

Keine bösen Vorurteile

Die Vorurteile in allen Gesprächen sind nicht böse gemeint oder gar bösartig formuliert. Oft ist es den Jugendlichen nicht einmal bewusst, in welche Kategorien sie die andere Seite stecken. Die erste gesamtdeutsche Generation sieht ihre Unterschiedlichkeit, aber sie wertet sie nicht. Sie akzeptiert sie, ohne ein Gefühl von Über- oder Unterlegenheit aufkommen zu lassen. Gerade, weil eine deutsche Gleichheit von den Jugendlichen nicht erzwungen werden will, könnte vielleicht ein Deutschland in seiner Vielschichtigkeit irgendwann einmal angenommen werden. Denn, so fasst Maike es zusammen: "Irgendwie gerät Deutschland immer wieder auseinander. Dass es Ost und West gibt und Ausländer und Deutsche und irgendwie sind wir gar kein einiges Deutschland."

Die Autorin ist freie Journalistin.

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