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Stimmen von drüben:

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Ein alter Herr in Krakau:

„Sie fahren nach Hause. nach Wien? Wie oft war ich in Wien, ich habe in einem Ulanenregiment gedient. Wien, das ist ja auch unser Zuhause!“

Ein junger Warschauer, derzeit in Krakau lebend, der schon mehrmals im Westen war:

„Zuerst kommt für mich Krakau, dann Wien. Alles andere ist zwar schön, hält aber keinem Vergleich stand. Ich schätze an Wien, daß es eine Weltstadt, gleichzeitig aber nicht so schrecklich groß ist.“

Ein junges Mädchen in der Tschechoslowakei, Jahrgang 1945:

„Meine Lieblingsschriftsteller? Schnitzler, Stefan Zweig, besonders seine Biographien. Im Radio höre ich am liebsten Opernübertragungen aus Wien und kenne natürlich alle Sänger. Ich fühle mich als Österreicherin und wünsche mir nichts sehnlicher, als einmal Wien kennenzulernen.“

Ein etwa 40jähriger Altösterreicher in Rumänien:

„Mit meinem Radioapparat kann ich die Sendungen von RIAS-Berlin und Wien hören. Selbstverständlich höre ich Wien, den ,Blick in die Welt1 von Vinzenz Ludwig Ostry. Der ,Blick in die Welt“ ist auch unser Blick in die Welt. Sagen Sie zu Hause, daß uns vor allem objektive, verläßliche Nachrichten interessieren. Wir wollen keine Propagandasendungen hören, wir möchten wissen, was wirklich vorgeht.“

Eine alte Dame in Siebenbürgen:

„Jeden Tag fährt der .Wiener Walzer1 bei unserem Haus vorbei. Und wir schauen ihm nach und möchten winken “

Ein Budapester im Herbst 1960:

„Kennen Sie den neuesten Witz? Genosse Chruschtschow spricht auf einer Versammlung in Ungarn und berichtet von den neuesten sowjetischen Weltraumerfolgen, daß es binnen kürzester Zeit möglich sein wird, zum Mond, zum Mars und zur Venus zu reisen. Schließlich meldet sich in der hintersten Reihe ein wackerer Held der Arbeit: ,Genosse Nikita Sergejevitsch, und wann wird es möglich sein, nach Wien zu reisen?1

Eine unbekannte Budapesterin, mit einem verstohlenen Händedruck:

„Danke für 1956!“

Österreichs Fama reicht aoer wei ter als die'Grenzen der alten Monar- nab iü! mupM/iauab

Eine 45jährige Taxichauffeuse in Moskau:

„Österreich, das ist für mich das Land der schönen Pullover. Vor kurzem hat eine Bekannte von mir geheiratet und durfte sich im Warenhaus für Brautleute neu einkleiden. Sie hat sich dort einen prachtvollen Pullover gekauft, ein Gedicht von Pullover! Manchmal träume ich in der Nacht von einem Pullover aus Österreich.“

Eine 25jährige jugoslawische Mazedonierin in Saloniki:

„Wien, das ist für mich das Herz Europas. Ich war bereits zweimal dort und bin begeistert zurückgekommen. Die alten Kulturdenkmäler, besonders die katholischen Kirchen, waren für mich ein Erlebnis. Was ich vom Westen weiß, habe ich in Wien gelernt!“

Die erste Etappe

Seit einiger Zeit ist es für Österreicher und andere westliche Ausländer leichter geworden, in die Volksdemokratien zu fahren. Auch für die Bewohner der kommunistischen Länder ist die Absperrung gegenüber dem Westen nicht mehr lückenlos. Sie kommen entweder als erwartungsvolle Touristen, die endlich den sagenhaften Westen sehen wollen, (manche von ihnen kehren nicht zurück), oder als Gelehrte, die von einer wissenschaftlichen Vereinigung eine Einladung erhalten haben. Eine gewisse Anzahl erhält die Erlaubnis, die Verwandten im Westen zu besuchen oder ganz zu ihnen auszusiedeln; diese letzte Gruppe sind meist kranke, gebrochene, bemitleidenswerte Leute.

Für alle diese Reisenden ist Wien entweder das heißersehnte Ziel oder die erste Etappe. Wer im Osten einen Paß beantragt, erhält ihn viel leichter für das neutrale Österreich als etwa für ein NATO-Land, und die geographische Lage bringt es mit sich, daß alle Verkehrswege über Wien führen. Aus jeder der östlichen Hauptstädte gibt es täglich mindestens einen Schnellzug nach Wien (überall heißen sie „Wiener Züge“, obwohl der aus Moskau bis Rom, der aus Bukarest bis Basel und der aus Sofia gleichzeitig auch in mehrere deutsche Städte fährt). Alle östlichen Luftlinien fliegen Wien an — die LOT war gezwungen, ihre Linie von Warschau nach dem Orient über Wien zu führen, da jeder Pole sein Geld unbedingt in Wien ausgeben will — und die AUA macht mit ihren Oststrecken gute Geschäfte.

Und so wird Wien also Schauplatz des Wiedersehens von Verwandten nach langjähriger Trennung; die-erleuchteten Geschäfte der Kärntnerstraße und das Verkehrschaos tn der Inneren Stadt bilden die Kulisse für die erste Begegnung zweier Welten. Es kommt zu einer Konfrontation mit Menschen, die diese ganze Zeit hindurch anderen Gesetzen unterworfen waren, andere Bedrohungen und Versuchungen zu bestehen hatten als wir, und sich daher in anderer Richtung entwickelt haben. Es ist verständlich, daß dieses andersartige Schicksal oft eine andere Weise des Denkens und Verhaltens hervorgerufen hat, die leicht zu Mißverständnissen führen kann. Wir sind manches Mal im stolzen Bewußtsein unserer Tüchtigkeit und einwandfreien

Gesinnung zu leicht geneigt, etwas gönnerhaft auf die „Kommunisten“ herunterzuschauen, während für die anderen die Versuchung groß ist, einem Gefühl des Neids und der Verbitterung wegen der ungleichen Gunst des Schicksals Raum zu geben, Minderwertigkeitskomplexe zu nähren, Forderungen zu stellen, die wir als unberechtigt zurückweisen — und was zuerst ein Mißverständnis war, kann sich leicht zu einer echten Kluft ausweiten. Zu ideologischen Streitgesprächen wird es allerdings kaum kommen. Sogar überzeugte Komunisten — sie sind in der Minderzahl —hüten sich in der Regel vor politischen Diskussionen oder Versuchen, die Überlegenheit ihres Regimes zu behaupten.

Auch wir haben böse Zeiten hinter uns, das nationalsozialistische Regime, den Krieg, die Russen- und Hungerzeit, aber daran denkt man nicht mehr gern. Seitdem es uns so gut geht wie nie zuvor, gelten unsere Interessen vor allem der Urlaubsreise, dem Geldverdienen, der angenehmen Freizeitgestaltung usw. Wir haben auf dem weiten Weg seit 1945 aber nicht nur materielle Güter gewonnen: die Überwindung der Bürgerkriegspsychose der dreißiger Jahre, die Abkehr von chauvinistischen Nationalismen, das weltweite Anliegen einer Einigung aller Christen darf man getrost als echte Errungenschaften unserer Zeit und unserer Generation bezeichnen.

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