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Fahrt in die neue Heimat

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Ist es wirklich erst zwei Wochen her, seit wir hieher, ins DP-Lager Vorkloster bei Bregenz, gezogen sind? Kennen wir all diese Menschen aus den verschiedensten sozialen Ständen, die hier mit und um uns wohnen, tatsächlich erst seit vierzehn Tagen? Jetzt, da wir vor der Abreise stehen — morgen früh soll unser Auswanderertransport über Innsbruck — Salzburg — Bremerhaven nach den Vereinigten Staaten abgehen —, helfen sie uns alle mit Rat und Tat bei den Reisevorbereitungen. Und wer nicht selbst dabei mit Hand anlegt, sucht uns doch wenigstens durch ein gutes Wort, einen Händedruck oder auch nur einen stummen, beredten Blick sein Mitgefühl zu bekunden. Unwillkürlich kommen mir da die Worte aus Rilkes „Cornet“ in den Sinn: „Da sind sie alle einander nah, die aus Frankreich kommen ,.., von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold. Denn was der eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so...“ Der Begriff: „Vom Kaiser Leopold“ ist freilich hier im weitesten Sinne zu nehmen: denn es sind Ungarn dabei, Szekler Landsleute und Rumänen aus Siebenbürgen, Kroaten, Slowenen und Serben aus dem Banat, Tschechen und Slowaken. Dann aber auch Polen, Russen, Ukrainer, Esten, Litauer, Letten und „die aus Frankreich kommen“, sind durch die französischen Beamten des Lagers vertreten, die mit der nur den Franzosen eigenen „Politesse du Coeur“ alles, was in ihrer Macht steht, beitragen, um uns an die Hand zu gehen. Auch sie haben ja im letzten Kriege erfahren, was es heißt, das Vaterland zu verlieren. Und hier wie nirgends lernt man, daß es nicht einmal des Verständigungsmittels der gemeinsamen Sprache bedarf, um einander zu verstehen: enger als alle Worte bindet das gemeinsame Schicksal die Menschen aneinander, sofern sie nur des guten Willens sind, einander Menschen zu sein.

Spät abends ertönt Gesang vor unseren Fenstern: Abschiedslieder in fünf Sprachen erklingen: französische, ungarische, polnische, deutsche und ukrainische Volksweisen. Wir öffnen das Barackenfenster. Unter der Leitung des französischen Lagerkommandanten bringen uns unsere neuen Freunde und jungen und alten Schicksalsgenossen ein Abschiedsständchen.

Der Abschied von den Freunden ist schwerer, als wir gedacht hatten. Und vielleicht beneiden wir sie sogar ein bißchen darum, daß ihnen das Abenteuer dieser Fahrt ins Unbekannte erspart wird, während sie wieder im stillen gern an unserer Seite dem Lande einer, wenn auch noch so rätselhaften Zukunft entgegenfahren würden.

Bis Innsbruck hat unsere Fahrt fast noch „privaten“ Charakter. Außer uns reist nur noch eine ukrainische Auswandererfamilie mit. In Innsbruck schließen sich andere an und unsere Gruppe, zusammengewürfelt aus Mitgliedern aller Nationen, die der Krieg und dessen Folgen aus den Angeln gehoben haben, füllt einen ganzen Waggon. Spätabends treffen wir in Salzburg ein. Sechs Tage verbrachten wir dort. Sonnenüberstrahlte, fast südlich warme Herbsttage, die uns den Abschied von Europa so recht zum Bewußtsein brachten. Dankbar empfanden und genossen wir jeden Schritt, den wir auf diesem uralten Kulturboden, umgeben von den erhabenen und doch lächelnden Denkmalen unvergleichlicher Kunst, die er trägt, tun durften. Die echt österreichische Freundlichkeit und das herzliche Mitfühlen, mit dem uns die Menschen in dieser einzigartigen Stadt überall entgegenkamen, tat wohl. Salzburg wird uns allen immer als eine der schönsten Erinnerungen im Gedächtnis bleiben, wenn unsere Gedanken sehnsüchtig suchend nach dem alten Europa zurückkehren,

Morgens versammelten sich die Auswanderer, die am Vortag in Gruppen zu etwa

20 Personen eingeteilt worden waren, im Hof der Lehener Kaserne. In mustergültiger Ordnung wurde eine Gruppe nach der anderen mit ihrem Gepäck auf den Bahnhof gebracht, wo der lange Sonderzug der IRO bereitstand. Wieviel wurde in Wort und Schrift schon über die IRO-Transporte gelästert! Nun, unsere Erfahrungen straften die Lästerer Lügen: für alle war reichlich Platz vorhanden in den mit Hängebetten versehenen Kupees der bequemen Pullman- wagen, deren erster als Küchenwagen eingerichtet war. Hier wurden dreimal täglich warme, vorzüglich zubereitete Mahlzeiten verabreicht. Im letzten Wagen befand sich eine ärztliche Ambulanz mit Pflegepersonal und Krankenbetten.

Knapp vor der Abfahrt des Zuges, nach ein Uhr mittags, ging ein Pope von Waggon zu Waggon und inzensierte jedes Kupee mit Weihrauch. Als sich der Zug in lautloser Stille, begleitet vom stummen Tücherwinken der Zurückbleibenden, in Bewegung setzte, hob der Pope segnend ein silbernes Kreuz hoch. Wie von selbst bekreuzigten sich alle, die diese schwere Fahrt antraten, ohne Unterschied der Konfession, und hunderte brennender, bittender Augen hefteten sich auf das noch von weitem leuchtende Zeichen des Heils. Auf der kurzen Strecke durch das Salzburger Land grüßten die Menschen auf den Feldern und aus Häuserfenstern freundlich winkend den Zug. Es war der letzte Abschiedsgruß, der uns von Bewohnern des Kontinents entboten wurde und zugleich das letzte Lebewohl von Österreich, das uns jahrelang Gastland gewesen war. Bald kamen die ersten Zwiebeltürme in Siehr, der Chiemsee blinkte auf; wir waren in Bayern. Es war sehr still im Wagen. Alles hing stumm seinen Gedanken nach. Jeder versuchte zu lächeln, um es dem anderen zu erleichtern, ein heiteres Gesicht zu zeigen. Und jeder wußte, wie schwer das war. Es war wohl keiner unter uns, der nicht gefühlt hätte: jetzt und hier heißt es, sich losreißen aus dem Bannkreis einer Umgebung, die, wenn auch nicht mehr die Heimat, so doch allen noch irgendwie seelisch verwandt war. Was nun kommen würde, das erst war wirklich die Fremde. Und wieder erwies sich die Gemeinschaft des gleichen Erlebens stärker als alle Unterschiede der Sprache und sozialen Herkunft: die ersten Worte, die fielen, waren Worte gegenseitigen Trostes und Mitfühlens. In München, wo kurz haltgemacht wurde, stand die Mutter einer mitreisenden Ungarin, um Abschied zu nehmen. Als der Zug abfuhr, klopfte ein ukrainischer Reisegefährte der weinenden jungen Frau auf die Schulter: „Mutter soll nicht hierbleiben. Wird nachkommen, ja?“ Wie sagt Rilke? „Als ob es nur eine Mutter gäbe.“

Auf der ganzen vierundzwanzigstündigen Bahnfahrt quer durch Deutschland von Süd nach Nord: über Fürth, Trenchtlingen, Göttingen, Hannover nach Bremerhaven blieb diese Kameradschaft, auch dann, als wir im Lager Grohn bei Bremerhaven-Vegesack eintrafen. Bei der Ankunft im Lager freilich blieb weder zum Handeln noch zum Denken Zeit: man glaubte sich in ein Halbfabrikat verwandelt, das, ob es will oder nicht, auf dem laufenden Bande in rasendem Tempo seiner Abfertigung zugeführt wird. War das schon amerikanisches Tempo oder noch deutsche Ordnung?

Der erste Eindruck dieses annähernd 6000 Personen beherbergenden Lagers, einer ehemaligen deutschen Marinekaserne, ist der von tadelloser Ordnung und Sauberkeit.Rasch findet man sich in die neue, genau eingeteilte Tagesordnung ein. Hier ist das Musterbeispiel eines Lagers, in dem trotz seiner ständig wechselnden Bewohner peinlichste Sauberkeit herrscht, für die die amerika nische Lagerleitung, die polnische Polizei und die zum Teil deutschen Angestellten gemeinsam Sorge tragen. Die Einförmigkeit des Wartens — denn das Leben hier heißt warten: warten auf die Auswanderungskommission, auf die ärztliche Untersuchung — zum wievielten Male? — auf Briefe und schließlich auf das Schiff — wird durch einführende Vorträge über Amerika, ein Lesezimmer, zwei Kinos und gelegentliche Konzerte und Veranstaltungen, die „Emigranten für Emigranten“ geben, verkürzt. Die Kapelle, die in der Mitte des Lagers steht, ist niemals leer. Hier wird abwechselnd in fünf Sprachen für Angehörige von fünf christlichen Konfessionen Gottesdienst abgehalten. Niemals klangen die slawischen Kirchengesänge, die hier die gregorianischen Chöre ablösen, ergreifender, trauriger und flehender als von diesen Heimatlosen, diesen Wandernden zwischen zwei Welten, in dieser fremd-sachlichen Umgebung gesungen! Während unserer Anwesenheit wurde eben der 10 0.0 00 Emigrant gefeiert,

der auf der Flucht vor den Diktaturen beider Observanzen, die sich im alten Europa breit machten und machen, reich beschenkt das Grohner Lager verließ, um an den freieren Küsten der Neuen Welt eine neue Heimstatt zu finden. Immerhin wartet annähernd ein Sechstel der „Bürger dieser wandernden Stadt“ hier schon seit Wochen. Manche sogar seit Monaten vergebens auf ihre Einreisebewilligung.

Ein Spaziergang zur nahen Weser — die Lagerinsassen können sich tagsüber frei in der Umgebung bewegen sowie Besuche von außen empfangen — gewährte uns den Anblick des ersten Ozeandampfers, der langsam-majestätisch stromaufwärts nach Bremen vorbeifuhr. Von Norden weht frische Meeresluft herüber und die Wolken des weiten Himmels über uns ließen uns etwas von der Ferne ahnen, die unser wartet. Wird sie unsere Befürchtungen oder unsere Hoffnung erfüllen? Das ist die Frage, die sich jeder der tausenden Entwurzelten stellte, die hier unser Schicksal teilen.

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