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Ein neues Preußen?

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Wer emsthaft von Deutschland spricht, rührt an viele heiße Eisen. Da verdient, zur Information, eine Stimme Beachtung, die im Zusammenhang mit der englischen Regierungspolitik auf dem Kontinent gelesen werden will. Die Briten machen sich, was leider auch in Österreich wenig zur Kenntnis genommen und gern mißverstanden wird, seit geraumer Zeit Vorstellungen über mögliche Lösungen der Konflikte in Europa, die ebenso kühn, u n orthodox wie diskussionswert sind. Wenn es Wege aus der Sackgasse gibt, das heißt, wenn man solche sucht und finden will, wird man manche neue Modelle möglicher Lösungen zur Kenntnis nehmen und prüfen müssen. Hier ist ein Vorschlag aus England, den der prominente Autor im „Observer“ (10. April 1960) vorträgt.

„Die Furche“

Man erwartet allgemein, daß die Gipfelkonferenz eher oberflächlich die wohlbekannten unvereinbaren Positionen zur deutschen Frage grosso modo wird Revue passieren lassen, um zu Berlin überzugehen. Indessen ist es nicht Berlin, das (auch abgesehen von der fehlenden Verständigung über die deutsche Wiedervereinigung) eine Gefahr für den Frieden darstellt, sondern Ostdeutschland. Nicht in Berlin, sondern in Ostdeutschland sehen wir uns einer unrepräsentativen Regierung in ständigem Konflikt mit ihrer Bevölkerung gegenübergestellt. Ein weiterer Aufstand in Ostdeutschland ist jederzeit möglich und könnte äußerst unvermutet zu einer Lage führen, die niemand zu beherrschen imstande wäre. Ostdeutschland, nicht Berlin, ist das potentielle Sarajewo eines dritten Weltkrieges, den niemand wünscht.

Läßt sich in Sachen Ostdeutschland etwas tun, ohne gleich von deutscher Wiedervereinigung zu reden? Eine Verständigung darüber scheint ja doch leider unwahrscheinlich, solange Europa in zwei gegensätzliche Lager gespalten ist. Keines von ihnen kann das Abschwenken eines geeinten Deutschlands ins andere Lager zugestehen und keines von ihnen könnte sich mit der Tatsache abfinden, daß ein geeintes Deutschland von beiden frei wäre und so das Kräftegleichgewicht zwischen ihnen für sich in Anspruch nähme.

An der Genfer Außenministerkonferenz von 1955 boten die Westmächte Rußland kompromißweise einen gewissen Grad von Demilitari-sierung im jetzigen Ostdeutschland und einen RückVersicherungsvertrag ge?en Deutschland, falls die Russen den Eintiiit eines geeinten Deutschlands in die NATO zugestehen wollten. Die Russen betrachteten dies, nicht unnatürlicherweise, als unbilliges Geschäft.

EIN DIENLICHER ERSATZ

Jedoch war der westliche Grundgedanke, den Russen eine interne Erleichterung in Ostdeutschland durch Garantien und Gegenkonzessionen in der deutschen Frage annehmbar zu machen, vermutlich gesund. Er könnte auch heute noch fruchtbar werden, wenn man sich dazu verstehen könnte, ihn vom derzeit unerreichbaren Ziel einer Wiedervereinigung zu trennen. Eine rein ostdeutsche Regelung, deren Ziel darin bestünde, die derzeitige gespannte und gefährliche lokale Situation in eine standfeste und gefahrlose umzuwandeln, sollte erreichbar sein, wenn nicht bei der ersten, so doch bei der zweiten oder dritten Gipfelkonferenz. Überdies könnte eine solche ostdeutsche Regelung, falls es dazu käme, in durchaus dienlicher Weise an eine Verständigung über Deutschland als ein Ganzes heranreichen.

Der mögliche rohe Umriß einer solchen Regelung für Ostdeutschland könnte vielleicht folgendermaßen gezogen werden: Das gegenwärtige Ostdeutschland würde durch ein Viermächteabkommen als authentischer zweiter deutscher Staat konstituiert, dessen Verfassung. Sozialsystem und Regierung auf freiem Entschluß der Wählerschaft beruhten und in dem volle innere politische Freiheit herrschte. Dieser Staat, der vielleicht den historischen Namen ..Preußen“ annehmen könnte, würde wieder mit Berlin vereinigt, das seine Hauptstadt würde. Hauptstadt und Hinterland würden pari passu von fremden Truppen befreit.

EINIGE EINSCHRÄNKUNGEN IM ÜBEREINKOMMEN

Das neue Preußen würde durch die vier Großmächte in seinen gegenwärtigen Grenzen anerkannt und garantiert, ebenso, möglicherweise, durch seine beiden Nachbarn, Westdeutschland und Polen. Es würde gewisse Verpflichtungen und Einschränkungen in seiner auswärtigen und militärischen Politik auf sich nehmen müssen, über welche sich die vier Großmächte im voraus einigen würden; vernünftigerweise wären in Aussicht zu nehmen: Neutralität, international kontrollierte Rüstungsbeschränkung und Übernahme der Handelsverpflichtungen seines kommunistischen Vorgängers.

Dies etwa so festzusetzen bedeutete ungefähr, daß der Status, den die Russen jetzt für West-Berlin allein vorschlagen — intern freie, international gebundene Freie Stadt —, auf ganz Ostdeutschland ausgedehnt würde: an Stelle einer bloßen Freien Stadt West-Berlin gäbe es einen Freistaat Preußen mit Berlin als Hauptstadt. Warum, so möchte man die Russen fragen, den

Ostdeutschen die Wahlfreiheit verweigern, die sie den Einwohnern ihrer größten Stadt offenbar zuzugestehen gewillt sind?

AUFZÄHLUNG DER VORTEILE

Schauen wir nun auf die Vorteile einer solchen Regelung. Sie sind überraschend zahlreich.

Zunächst gäbe es Erleichterung für die schwerbedrückte ostdeutsche Bevölkerung, die ihre innere Selbstbestimmung und Freiheit wiedergewinnen würde und wieder fähig wäre, ein freies, normales Leben nach eigener Wahl zu führen. , 3b .Wuolp .fort f“ ' o rbii mv

Zweitens würde eine Gegend, die derzeit die gefährlichste Spannung aufweist und die wahrscheinlichste Ursache eines ungewollten Krieges zwischen den zwei Machtblöcken in Europa darstellt, in eine beide Teile gleich interessierende

Angelegenheit und ein Bindeglied zwischen beiden umgewandelt, ähnlich wie die Schaffung eines neutralen Belgiens unter gemeinsamei Garantie der Großmächte Handhabe bot, den 1831 drohenden europäischen Krieg in einen langen Frieden zu verwandeln.

Drittens würde die Schaffung eines freien, neutralen Preußens gegebenenfalls zwei Probleme zugleich lösen: jenes von Berlin und jenes der Oder-Neiße-Grenze. Berlin würde natürlicherweise die Hauptstadt des neutralen Staates und bedürfte nicht mehr länger eines besonderen Status; die Oder-Neiße-Grenze als östliche Initialgrenze Preußens würde durch die Anerkennung des neuen Staates automatisch international sanktioniert werden.

Viertens würde die Deutsche Bundesrepublik ihren provisorischen Charakter verlieren und das ungelöste deutsche Problem würde nicht mehr länger wie eine Sturmwolke über Europa hängen. Es gäbe dann drei anerkannte Nachfolgestaaten von Hitlers Großdeutschland: ein im Westen integriertes Deutschland von 50 Millionen, ein neutrales Preußen von 20 Millionen und ein neutrales Österreich von 7 Millionen, jeder mit seiner besonderen Aufgabe im europäischen Kräftesystem, jeder innerlich frei.

EINIGE FOLGERUNGEN

Schauen wir nun, in welchem Maße die Lösung zufriedenstellen kann. Das fällt natürlich verschieden aus, je nach dem eingenommenen Gesichtspunkt. Die Deutschen in Ost und West würden das größte Opfer zu bringen haben, ihren Ruf nach nationaler Einheit. Die Russen müßten ein kommunistisches Satellitenregime opfern. Der Westen müßte jeden Gedanken daran begraben, östlich der deutschen Staaten irgendwelche Macht ausüben zu können. Polen müßte sich damit abfinden, im -us-sischen Teil Europas zu leben.

WIEDER EINE RICHTIGE HAUPTSTADT

Wir wollen diese bitteren Aspekte der Lösung nicht verniedlichen. Wir weisen jedoch darauf hin, daß sie bemerkenswert ausgewogen erscheinen: niemand könnte nicht ehrlicherweise der Meinung sein, selber das größte Opfer zu bringen. Überdies würde jeder Teil, während er einen Lieblingswunsch begrübe, gleichzeitig etwas gewinnen: die Ostdeutschen würden von ihren Ketten befreit, die Westdeutschen von ihrem schlechten Gewissen vis-ä-vis ihren Landsleuten im Osten.

Berlin, das ein reiches Deutschland gegen ein armes Preußen eintauschen müßte, würde als Kompensation sich wieder als richtige Kapitale sehen. Die Russen würden implizite Sicherheit für ihr osteuropäisches Reich gewinnen, um den billigen Preis ihrer exponiertesten und ungesundesten Außenstation. Die Polen, die ungern genug in diesem Reiche leben, würden ihre Westgrenze gesichert haben. Der Westen, von der Furcht eines Zufallskrieges in Europa erlöst, könnte sich eines vergleichsweise ehrbaren Friedens freuen. Alle würden ein Gefühl ungeheurer Entspannung empfinden, von plötzlicher Stabilität und Endgültigkeit.

Eine Regelung, bei welcher jeder Partner ehrlich fühlt, daß er gleichzeitig gewinnt und verliert, hat etwas Empfehlenswertes, besonders in einem derart verrannten Kräfteverhältnis wie dem jetzigen. Ein anderer Punkt, der für diese Lösung spricht, wäre der, daß sie mit einem Minimum an Änderungen durchzuführen wäre: keine verschobenen Grenzen, keine verlorenen Gesichter. Es braucht nur einen winzigen Schritt weg vom Status quo. rcJ. v

Den Schlüssel zu allem würden wirkliche fyfe, Wahlen ,|dgisjugl bildefl„ (für welche allerdings narren- und sklavensichere Sicherungen vorgesehen und angenommen werden müßten). Das andere würde sich von selber ergeben, und außerhalb Ostdeutschlands bliebe alles beim alten — bei aufgehobener Spannung. Dürfte man als weiteren Gutpunkt vielleicht anfuhren, daß die Lösung keinen Anspruch darauf erhebt, Himmel und Erde neu zu erschaffen?

Es ließe sich sagen, daß trotz alledem weder Deutsche noch Russen auf so etwas auch nur eingehen würden; die Deutschen, weil sie niemals auf nationale Einheit verzichten wollen, die Russen, weil sie niemals ein einmal etabliertes kommunistisches Regime opfern. Dem kann so sein. In diesem Fall wird es wahrscheinlich eines Tages zu einem schrecklichen Krieg kommen. Aber wenigstens die Deutschen sind gegenwärtig in äußerst nüchterner Verfassung, und sowohl Dr. Adenauer wie Herr Strauß haben klar zu verstehen gegeben, daß sie sich mit der Freiheit für Ostdeutschland auch ohne deutsche Wiedervereinigung zufrieden geben könnten. Wenn allerdings die Ostdeutschen weiterhin, Jahr für Jahr, unter den Augen ihrer Landsleute bedrückt werden, kann das eines Tages mehr sein, als Fleisch und Blut zu ertragen vermögen, und die Wut gewinnt eines Tages die Oberhand.

KEIN EIGENTLICHER RÜCKZUG

Was nun die Russen angeht, so werden sie sich, wenn sie die Lage kühl und sachlich betrachten, fragen müssen, wie „etabliert“ ' das kommunistische Regime in Ostdeutschland wirklich ist. Das hängt noch immer von der allgegenwärtigen Ausübung der russischen physischen Macht ab. Und während die Russen den Rumpf Ostdeutschlands kontrollieren, kontrolliert der Westen sein Haupt, Berlin; und über dem ganzen wackligen Arrangement hängt die kombinierte Drohung der unheilbaren Unzufriedenheit des Volkes und der wachsenden Stärke Deutschlands. „Der Kommunismus darf keinen Schritt zurückgehen?“ Es ist nicht eigentlich ein Rückzug, seinen Fuß aus einer Falle zu ziehen.

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