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„Ein gewisser labiler Teil”

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In der Erklärung der Staaten des Warschauer Paktes vom 13. August, die das Vorgehen des Ulbricht-Regimes in Ost-Berlin nicht nur deckt, sondern geradezu juristisch legitimiert, findet sich inmitten der üblichen marxistischen Terminologie ein Ausdruck, der aufmerken läßt, weil er einer Wirklichkeit Rechnung trägt, die noch vor wenigen Jahren in einem Dokument des Marxismus nicht verzeichnet worden wäre. Es ist dort von einem „gewissen labilen Teil von Einwohnern der DDR” die Rede, die (natürlich durch „Betrug, Korruption und Erpressung”) veranlaßt wurden, nach Westdeutschland zu geben. Für die Väter des Marxismus und ihr Klassenkampfschema von der Gesellschaft, konnte es einen solchen „labilen Teil” als Faktor irgendeiner Entwicklung natürlich nicht geben. Auch Stalin ging ja bekanntlich noch von der These der Verschärfung des Klassenkampfes auch in der sozialistischen Gesellschaft aus. Die ideologische Begründung aller seiner Schauprozesse und Säuberungen lag ja eben in diesem Gegensatzschema: Es konnte und kann nur Bourgeoisie und Proletariat geben. Wer immer sich gegen die von der Kommunistischen Partei vorgezeichnete Linie des Proletariats stellte — sei es in welcher Frage immer — konnte dies nur im Auftrag der internationalen Bourgeoisie tun, deren Klasseninteresse mit dem seinen zusammenfiel. Nichts „Labiles”, nichts vom dialektischen Gegensatzschema Unerreichbares konnte und durfte es in der klassisch marxistisch-leninistisch-stalinistischen Gesellschaft geben. Die ungarischen Arbeiter, zusammen mit den Deutschen vom 17. Juni, die Streikenden von Posen, die einsamen Aufständischen d(er Skoda-Werke in Pilsen durchbrachen durch ihren geschichtlichen Auftritt dieses Schema. Man nahm dies zunächst nicht zur Kenntnis, man diskutierte sie hinweg. Nun aber hat die Wirklichkeit gesiegt: Der Flüchtlingsstrom aus Ostdeutschland war nicht nur in den letzten Tagen vor dem Gewaltakt Ulbrichts nahe daran, alle Dämme zu sprengen. Er hat auch das Gedankengebäude der marxistischen Strategen unterspült. Niemand ist in der Lage — und niemand interessiert sich sonderlich dafür — zu erkunden, was im Herzen des Altkommunisten Ulbricht in diesen letzten Tagen vorgegangen sein muß. Aber manches spricht dafür, daß auch für ihn eine Welt zusammengebrochen ist. Spätestens bei jener Betriebsversammlung, als ein einfacher Berliner Arbeiter dem mächtigsten Mann der Zone vor versammelter Belegschaft zurief: „Weißt du überhaupt, wie das Volk denkt ?” Wir können nicht glauben, daß der Plan der Panzersperren und Betonmauern, des Stacheldrahts und des Schießbefehls an die „Grenzposten” von Anfang an bei Ulbricht feststand. Daß er von Chruschtschow nicht gewollt war, kann heute schon fast als bewiesen gelten. Daß er in Warschau und Prag Bestürzung hervorrief, wurde trotz offizieller Phrasen kaum verhohlen. Eine Realität ist aufgestanden in diesen Tagen, die den Mächtigen des Ostblocks im Grunde ebenso zu schaffen macht, wie einst die Freiheitskämpfer in Ungarn. Ulbricht verlor ihr gegenüber die Nerven. Er griff zum Auskunftsmittel aller Gewaltherrscher am Ende ihres Lateins: zur Polizei. Chruschtschow blieb nichts anderes übrig, als den verzweifelten Polizeimeister selbst unter Quarantäne zu stellen. Der Marschall Konjew zog nach der Mitte Deutschlands, weniger, um von dort den Angriff an den Rhein vorzutragen, an den heute der Kreml weniger denn je denkt, als um Ulbricht an der Kandare zu halten. Die berühmten „incertitudes allemandes” hatten für ein paar Tage den ganzen Ostblock alarmiert. Im Grunde wissen alle, daß es so nicht bleiben kann und bleiben wird. Aber wo ist der Ausweg zu finden: Das Orakel des Karl Marx schweigt. Man sitzt hinter der Betonmauer am Potsdamer Platz selbst in der Falle. Man weiß nur zu gut: Wenn man jetzt einen einzigen Spalt legal oder auch nur stillschweigend öffnete.

bräche ein neuer Flüchtlingsstrom durch, der einer Völkerwanderung gleichkäme. Jeder Tag heizt den Kessel mehr an. Liberalisierungen führen zu Dammbrüchen, Verhärtungen des Regimes zu Stauungen, die in sich die Gefahr eines Verzweiflungsausbruches einschließen. Der „gewisse labile Teil” ist zum Synonym für die Mehrheit der Zonenbevölkerung geworden.

II

Das Einmalige der sich in Deutschland entfaltenden und in ihren inneren Strukturen offenbarenden Weltlage liegt nur darin, daß die führenden Männer des Westens den Dingen in sehr ähnlicher Ratlosigkeit gegenüberstehen. Das unterscheidet die gegenwärtige Weltkrise von allen, die ihr vorangingen, auch von denen, die zu den beiden Weltkriegen führten.

Die volksdemokratischen Staatsführer des Warschauer Paktes geben zähneknirschend zu, daß ihre Bevölkerung „gewisse labile Teile” enthalte, die sich jeder Beherrschung und Reglementierung entziehen, die eine Eigengesetzlichkeit entfalten, der man eingestandenermaßen nur durch die Polizeimaßnahmen der verruchten, alten Klassengesellschaft Herr werden kann. Aber auch der Westen, genauer und im einzelnen gesagt: die bundesdeutsche Führung, sie sehen sich einer Gesellschaft gegenüber, deren Eigengesetzlichkeit jede über den Tag hinausweisende und planende Politik in den luftleeren Raum verbannt. Die Politiker sind nicht mehr die „Männer, die Geschichte machen”, noch weniger die „Drahtzieher” aus dem Schauertheater des verschollenen 19. Jahrhunderts.

Zur Illustration dieser These nur einige Details der letzten Tage: Unbeschadet aller dramatischen Krisenstimmung ging in Westdeutschland der Wahlkampf weiter. Er mußte weitergehen, kraft einer Eigengesetzlichkeit, der sich auch politische Romantiker von so hohen Graden wie der deutsche Bundestagspräsident nur mit einem rührend-hilflosen Appell entgegenzustellen vermochten. Adenauer führt den Wahlkampf — „als ob nichts geschehen wäre” — weiter, nicht, weil er ein Bösewicht oder Parteistreber ist, der an der allgemeinen Verwirrung profitieren möchte, sondern weil er sich mit kalter und unerbittlicher Logik ausrechnet, was einem Verlust der Mehrheit der CDU folgen müßte. Keinesfalls eine SPD-Regierung, sondern eine Koalition mit der in sich zerfahrenen nationalliberalen FDP. deren

Mitsprache bei allen Regierungsentscheidungen unweigerlich ins Chaos führen würde. (Man vergegenwärtige sich nur die außenpolitischen Konzeptionen von Dehlers Rom-Haß bis zu den Jungtürken von Düsseldorf mit ihren Zonengesprächen oder bis zum Saarpolitiker Heinrich Schneider mit seinem fast alldeutschen „Reichskonzept”.) Ebenso wie Adenauer, kann sich aber auch der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Brandt dem Sog des Parteikampfes nicht entziehen. Er muß sich gegenüber den aus guten Gründen zögernden „Bonnern” zum Vorreiter einer radikalen Politik gegenüber dem Osten machen. Denn — so flüstern ihm bestimmt seine Demoskopen zu — jetzt oder nie ist die Stunde, in der sich die Sozialdemokratie vom Odium der „vaterlandslosen Gesellen” und von der ihr in die Schuhe geschobenen „Ostfreundlichkeit” reinigen kann. Jetzt kann Willy Brandt („alias Frahm” nannte ihn Adenauer in gezieltem Tiefschlag öffentlich) beweisen, daß er, obwohl „nur” Emigrant, zumindest ein so guter Deutscher ist, wie ja, wer denn eigentlich? Die Meinungsforscher, die auch in diesen Tagen ihre Beobachtungen fortsetzten, wissen es: Sie wissen mehr über den „gewissen labilen Teil” auch in Westdeutschland, als es je in den Zeitungen stünde. Und s i e diktieren das Gesetz des Handelns. Der Staat ist auch im Westen nur noch das Gehäuse einer Gesellschaft geworden, die nicht — in gesundem Pluralismus — von verschiedenen Seiten und natürlich-diffe- renzierten Ausgangspunkten her das gemeinsame Ziel — das bonum commune — anvisiert. Diese Gesellschaft ist eine Sammlung von Grund her verschiedener Gruppen und Grüppchen, auf deren Votum jeder Politiker — auch der nur scheinbar allmächtige Adenauer — angewiesen ist. Der Wirtschaftsminister Deutschlands wagt es nicht, die Geschäftswelt zum Boykott der bevorstehenden Leipziger Messe aufzurufen. Er weiß, warum: Die Blamage der Nichtbefolgung wäre zu groß. Und befolgen wird kaum einer seinen Appell.

III

Ist solcherart der Ulbricht-Staat „labil” geworden und steht ihm die Bundesrepublik in der Unberechenbarkeit der breiten Massen kaum nach, dann kann man sich nicht wundern, wenn mit einem Male das ganze Deutschland vor der Weltöffentlichkeit als labil erscheint. Gewiß gibt es diesen Auflösungsprozeß des Staates von der Gesellschaft her auch in anderen westlichen Ländern. (Uns fiele da ein sehr nahegelegenes Beispiel ein.) Ohne de Gaulle hätte sich etwa Frankreich bereits im Mai 195 8 in eine einzige

„incertitude” verwandelt, für die Stabilität in Spanien bürgt kaum mehr ein Weitschauender. Aber das alles tritt zur Stunde zurück vor dem Phänomen Deutschland. Man hat im Washington Kennedys etwas schneller kapiert als in London, was hier auf dem Spiele steht: Man hat schon nach wenigen Tagen auch nur den Gedanken an einen stillen Ausgleich mit den Sowjets — Fata Morgana aus den Tagen von 1945 — aufgegeben. Denn man kennt die Gefahr des Nachher: Keine Hitler-Armeen würden zwar wieder — vielleicht unter roter Fahne — im Westen einfallen. Aber die Umorientierung des dann zur Gänze labil gewordenen Nach-Adenauerschen Deutschland auf einen gewissen Nachbarschaftskurs zum Sowjetosten besäße vom Wirtschafts- und Arbeitspotential eine Dynamik, der in Europa kaum etwas standzuhalten vermöchte. Der dritte Weltkrieg wäre vom Kommunismus gewonnen, ohne daß ein Schuß Pulver nötig wäre. Potsdam und Jalta lassen sich nicht wiederholen. Die weltpolitischen Strukturen sind andere geworden. Stalin und Roosevelt konnten die Einflußbereiche in den europäischen Staaten noch durch das Verschieben von Streichhölzern abgrenzen. Dies ist nun für alle Zukunft vorbei. Gewiß: man kann, wie es die Sowjets 1956 in Budapest taten und wie es — kontrolliert durch Marschall Konjew — heute Ulbricht tut, ins Vorgestern ausweichen und die Geschichte nach Art des Vormärz aufzuhalten versuchen.

Der entscheidende Vorsprung des Westens — vor allem unter der Führung Kennedys — liegt aber in der Erkenntnis, daß eben dies nicht mehr geht. Man muß die neuen, labilen Faktoren zur Kenntnis nehmen und kann dies alles nicht mehr dämpfen. Man kann den Staat nicht mehr nach autoritären oder faschistischen Rezepten gegenüber der Gesellschaft stärken und ausspielen. Man kann vor dieser mächtig gewordenen Gruppengesellschaft, deren Dynamismen auch in der gegenwärtigen Krise das Gesetz des Handelns bestimmen, nicht die Augen verschließen und sich in die Scheinwelt der Kabinettsverträge und Flüsterallianzen flüchten. Man kann sich nur an die Spitze eben dieser konkreten Gesellschaft setzen und sie von einem Ziel, einer neuen Grenze her, zu integrieren versuchen. Die Weltverhandlungen werden kommen, weil die „Labilen” in West und Ost stark genug sind, den Krieg zu verhindern, den selbst ein Chruschtschow nicht wagen kann. Der aber wird bei diesen Verhandlungen im Vorteil sein, der für die „Labilen” andere Rezepte weiß, als den Stacheldraht.

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