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Deutsche Einigung und Atlantikpakt

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Das letzte Vierteljahr 1951 beginnt im Zeichen einmaliger Möglichkeiten der sowjetischen Außenpolitik. Mögen diese der Geschicklichkeit oder dem Glück des Kremls zugeschrieben werden, eines ist gewiß: zum ersten Male seit langer Zeit ist diese Chance nicht aus den wirklichen oder scheinbaren Irrtümern westlicher Diplomaten entstanden.

Was die Einigung der Bundes- und der .demokratischen“ Republik für die Deutschen dies- und jenseits der Elbe bedeuten mag — die Erörterung dieser Frage wollen wir der hiezu berufenen deutschen Auslegung überlassen. Unsere Aufgabe scheint nur eine solche Entwicklung in den europäischen und Weltrahmen hineinzustellen, wohin sie ihrer Bedeutung gemäß gehört.

Es gibt Stimmen, die in der unvermittelten Begeisterung Moskaus für die deutschen Einigungsgespräche einen Grund mehr sehen, um .an ihren Ergebnissen zu zweifeln. Sie vergessen aber, daß diese Einigung Deutschlands den Interessen Moskaus durchaus entsprechen würde. Ja, die Interessen der nichtkommunistischen Deutschen und des Kremls laufen hier parallel! Klar ist es auch, daß der Kreml zur .Ermunterung“ Grotewohls eben durch die Pläne des Westens, die Bundesrepublik zu bewaffnen und ihr auf Vertragsbasis eine weitgespannte Souveränität anzuerkennen, verursacht wurde.

Ein geeinigtes Deutschland wäre aller Voraussicht nach nicht kommunistisch. Dessen ist man sich im Kreml trotz der vermutlich allzu rosigen Berichte der SED bewußt. Das einige Deutschland wäre aber — mindestens für die ersten Jahre seines Daseins — auch kein Partner für die Atlantikallianz. Denn es wäre viel zu sehr von den Wiedervereinigungswehen in Anspruch genommen, als daß es eine Rolle in der Weltpolitik spielen könnte. Seine außenpolitischen Ambitionen würden von näherliegenden Problemen, wie dem wirtschaftlichen Aufbau der früheren Ostzone, der Neutralisierung der Bereitschaftspolizei, die Erzielung eines Ausgleichs in der, gelinde gesagt, .unterschiedlichen“ Behandlung der ehemaligen NS-Würdenträger und der .inneren Völkerwanderung“, bestimmt. Als Faktor im Verteidigungssystem des Westens würde das neue Deutschland aller Wahrschein-lichk'it uach ausscheiden.

Dieses einige Deutschland hätte sogar manchen Grund, der Versuchung zu unterliegen, eine neutrale Stellung einzunehmen und etwa die Rolle des Ausgleichenden, des ideologischen Puffers, zwischen Ost und West zu spielen. Es würde ja seine Einigkeit der Zustimmung Moskaus verdanken — selbst wenn diese vom Respekt vor den Maßnahmen der westlichen Diplomatie erwirkt worden sein sollte.

Ein westliches Verteidigungssystem ohne Deutschland würde im Norden den Abschnitt Norwegen — Dänemark mitumfassen, der mit den anderen Ländern nur auf dem Seeweg verbunden wäre. Ferner am Festland: Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Italien, im wesentlichen also der Rhein — Alpen-Linie folgen. Schließlich noch, im Rücken des Kontinents, Großbritannien, weiter weg Island, und als Grundpfeiler den großen Partner, die USA.

Das Dazwischenschieben eines neutralgesinnten, einigen Deutschlands müßte demnach eine Loslösung Norwegens und Dänemarks vom atlantischen Block geographisch bedingen. Sie ist deshalb mit ziemlicher Gewißheit vorauszusagen. Die beiden skandinavischen Länder würden zwar — wie vielleicht auch Deutschland — an wirtschaftlichen Organisationen, wie OEEC und EZU, weiterhin mitarbeiten, sie könnten aber infolge ihrer Ab-getrenntheit eine militärische Zusammenarbeit schwer auf sich nehmen und würden sich in dieser Beziehung eher dem neuen „Reich der Mitte“, Deutschland, annähern.

Eine solche mit dem Ausscheiden Deutschlands einsetzende und sich mit dem Austritt der Nordländer fortsetzende Kettenreaktion müßte auf die anderen westeuropäischen Länder ernste Auswirkungen haben. Dies um so mehr, als auch im Kongreß zu Washington bedenkliche Äußerungen gefallen sind, wie etwa im Sinne des Hooverschen „amerikanischen Gibraltar“. Andere wieder mögen behaupten, die Verteidigung des Westens sei erleichtert worden, da die Zeit, welche der Angreifer bei der Überrumpelung des neutralen Deutschlands verliert, dem Verteidiger zugute kommt. Immerhin wäre die politische Atmosphäre in den Ländern, die dann in der Atlantikallianz verbleiben, eine wesentlich andere, als sie es heute ist... Die

Umwandlung der Allianz in ein Netz bilateraler Verträge gegen Angriffe von außen ist da eine Möglichkeit, die auf der Hand liegt, und die Rückschiffung der amerikanischen Truppen, die Einstellung der Waffenlieferungen an Europa usw. könnten die Folgen sein.

Was hier im Konditionellen beschrieben wurde, dürfte dem Gedankengang sowjetischer Politiker entsprechen. Und bei einem passiven Verhalten des Westens kann die Hypothese leicht zur Wirklichkeit werden. Man muß sich deshalb die Frage stellen, wie der Westen auf die Möglichkeit einer derartigen Entwicklung reagieren wird. Dies betrifft besonders die Regierung in Washington, denn es ist zu erwarten, daß ein etwaiger Rückzug aus Europa mit einer Änderung der Fernostpolitik Hand in Hand gehen würde. Die sowjetische Weltpolitik hätte zwischen Europa und Asien die Wahl. Für eine Gegenwartspolitik ist ihr Europa unentbehrlich. Für eine sowjetische Politik aber, die in Zeiträumen von halben oder ganzen Jahrhunderten denkt, ist Asien die Hoffnung und die Erfüllung zugleich.

Wenn der Westen die Verwirklichung der sowjetischen Wunschträume verhindern wollte, blieben ihm zwei Wege offen. Zunächst eine Verständigung mit der Sowjetunion. Nach den bisherigen Erfahrungen ist es verständlich, daß man in den Außenämtern zu Washington, London und Paris solchen Gesprächen mit einer etwas gedämpften Begeisterung entgegenblickt. Immerhin ist bekannt, daß Winston Churchill für die Wiederaufnahme des Kontakts mit dem Kreml eintritt. Bekannt ist es auch, daß der Quai d'Orsay nie „a priori“ eine Konferenz ablehnt. Das Verhalten Washingtons ist wohl zurückhaltend, aller Wahrscheinlichkeit nach würde aber das State Department seinen Verbündeten folgen. Aus diesen Vier-Mächte-Gesprächen könnte eine Kette neutraler Pufferstaaten hervorgehen. Schweden, Deutschland, Österreich, die Schweiz und Jugoslawien könnten gegen jeden äußeren Angriff sowohl vom Westen als auch von der Sowjetunion Garantien erhalten. Damit wären alle neuralgischen Punkte neutralisiert — wenn solche Abmachungen Dauer versprächen.

Der zweite Weg zu einer Lösung besteht in einer großzügigen Abänderung der bisherigen Deutschlandpolitik des Westens. In französischen konservativen Kreisen wurde oft beklagt, daß die Alliierten Deutschland immer nur nach langem Zögern und unter dem Druck aus Bonn Zugeständnisse machten, die logische Folgen der gesamten westlichen Weltpolitik gewesen wären, und eben deshalb freiwillig, nicht als Zugeständnisse gemacht werden sollten. Um Westdeutschland zu stärken, sollte Bonn eben deshalb jetzt an Stelle der langwierigen Verhandlungen mit einem Zug alles zurückerhalten, was ihm an Souveränität noch mangelt — mit dem einzigen Vorbehalt der Wiederbewaffnung. Weiterhin sollte Westdeutschland die Gewißheit gegeben werden, daß gegebenenfalls auch das geeinigte Deutschland auf die gleiche wirtschaftliche Unterstützung des Westens rechnen könne, wie die Bundesrepublik. Solche umfassende Zusicherungen würden die Position Westdeutschlands in den innerdeutschen Gesprächen festigen und ihm erlauben, Deutschland vor der Rolle eines Pufferstaates zu bewahren und ihm seine Stellung in der Gemeinschaft des Westens zu sichern.

Noch läßt sich nicht voraussagen, wann die Einheit Deutschlands zur Wirklichkeit werden wird. Man ist aber hier wie in anderen Hauptstädten des Westens überzeugt, daß sich diese Einigung selbst mit Gewißheit vollziehen wird. Welchen Weg die Diplomatie des Westens wählen wird, steht noch dahin. Es ist aber gewiß, daß säe zu Lösungen von großer Kühnheit greifen wird müssen, welche die Weltpolitik entscheidend beeinflussen werden.

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