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„Modifizierte Konfrontation“

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Während Präsident Fords wirtschaftliches Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Inflation und der Energieknappheit im Zentrum der allgemeinen Diskussion steht, widmen Medien und Öffentlichkeit in den USA der Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion wenig Aufmerksamkeit. Allgemein ist die Ansicht verbreitet, daß die Detente noch gelte, obgleich die Sowjets das kürzlich vom Präsidenten Unterzeichnete Handelsabkommen gekündigt und den Botschafter Do- brynin aus Washington zu längeren Konsultationen nach Moskau abberufen haben. Aber weil gerade jene demokratischen Kongreßkreise, die die Oppostion gegen Ford führen, am Scheitern dieses Paktes nicht unschuldig sind, wird das Thema der Relation der beiden Supermächte unterspielt.

Dabei werden vermutlich gerade jetzt in Moskau Entscheidungen getroffen, die für den Fortbestand der freien Welt ebenso entscheidend sind wie die Probleme der Energieversorgung, und außerdem mit diesen eng verbunden sind. Wann immer im Kreml größere Entscheidungen vorbereitet werden, tappt die Welt zunächst im dunkeln. Es scheint aber ziemlich sicher zu sein, daß diese Entscheidungen mit der Person und der Zukunft Breschnjews im Zusammenhang stehen und daß wir uns mit schnellen Schritten einer nach- breschnjewschen Ära nähern. Ob das nun alters- oder gesundheitsbedingt ist, oder ob die Einsicht sich Bahn bricht, daß eine neue Politik von neuen Männern getragen werden sollte — es hat jedenfalls den Anschein, daß der Kreml sein Verhältnis zu Washington einer neuen Analyse und Bewertung unterzieht.

Aus der Erfahrung mit solchen Übergangsperioden wissen wir, daß sich zunächst ein Kollektiv als Führungsgruppe zu etablieren pflegt, das für eine breite Palette von Ansichten und Ideologien im Zentralkomitee repräsentativ ist. Im Gegensatz zur Politik eines etablierten und anerkannten Führers, muß dieses Kollektiv vorsichtig, abwartend und neutral operieren, was, auf die Relation zu den USA übertragen, bedeutet, daß der Zustand der Detente einen Rückschlag erleiden muß. Niemand zwar würde in einem solchen Führungsgremium einen Kollisionskurs befürworten oder riskieren, aber ebensowenig wird sich jemand dafür einsetzen, den Beziehungen zu Washington absolute Priorität einzuräumen oder ein Konzept der Teilung von Interessenssphären mit einer Macht auszuarbeiten, von der heute regiert und wo die Zentren der politischen Macht liegen. Wenn aber eine solche sowjetische Politik, die man etwa als „modifizierte Konfrontation“ bezeichnen könnte, auf die zur Zeit wirtschaftlich geschwächten und politisch zerrissenen Vereinigten Staaten trifft, bedeutet das eine zusätzliche

Rüstungsbelastung, die bei einem Defizit von etwa 40 Milliarden im heurigen Jahr kaum mehr zu verkraften ist. Ohne irgend etwas zu riskieren, würde so eine von der Detente abweichende sowjetische Außenpolitik die Lage der Vereinigten Staaten wirtschaftlich und innenpolitisch, aber natürlich auch in ihrer außenpolitischen Problematik, weiter erheblich belasten.

Was hier immer wieder übersehen wird, ist die Abhängigkeit der Außenpolitik von der inneren Verfassung eines Staates. Zunächst einmal setzt ein Vorzugs Verhältnis — wie es zwischen Moskau und Washington bestand — einen funktionierenden Apparat der Macht voraus. Abmachungen von „Führer zu Führer“ müssen durchführbar sein. Solange Nixon 60 Prozent der Wählerschaft hinter sich hatte, konnte er eine außenpolitische Linie entwerfen, die im wesentlichen auch vom Kongreß akzeptiert wurde. Schon während der Watergatekrise traf diese Voraussetzung nicht mehr zu. Unter Ford ist die Außenpolitik der USA fast zum Erliegen gekommen. Der Kongreß versucht die Außenpolitik zu gängeln und schaltet damit den Apparat aus, der die Beziehungen lenken und beeinflussen sollte. Auch während der Periode stärkster Machtentfaltung unter Nixon-Kissin- ger, als es gelang, die Detente mit dem Kreml zu erreichen, befanden sich die USA in einer inneren Schwächeperiode. Das Auflehnen gegen das Vietnamengagement schwächte die „innere Front“. Aber die Wirtschaftskomponente war noch einigermaßen intakt. Überdies benötigte der Kreml Rückenfreiheit gegenüber Rotchina, das von Nixon- Kissinger geschickt ins Spiel gebracht wurde. Nur so ist es verständlich, daß Moskau die ‘ Verminung und das Bombardement von Hanoi stillschweigend hinnahm, der Detente unterordnete und damit Washington in der Welt aufwertete, ohne daß diese Position eigentlich von Stärke getragen wurde. Ein taktischer Schachzug hatte das echte Kräfteverhältnis verwischt.

Früher oder später mußte jedoch dem Kreml klar werden, daß er die Politik gegenüber den USA überbezahlt hatte. Wenn das noch nicht früher zu Konsequenzen im Führungsapparat des Kremls geführt hat, so deshalb, weil der jeweilige Exponent einer solchen Politik alles versucht, seinen Irrtum zu verbergen.

Er versucht die Entwicklung in seinem Sinn zu interpretieren, so lange das eben geht. Denn eine falsche Einschätzung des Gegners, eine unrichtige Analyse bedeuten für ihr und das Land schwerwiegende Konsequenzen und grenzen an Sabotage. Auch wenn derartige Fehler heute auch nicht mehr mit stalinistischen Ahndungen belegt werden. Dann ist aber auch eine Annäherung der Sowjets an Rotchina im Werden, das die taktischen Gegebenheiten völlig verändert.

Nun ist es offenbar soweit. Die wirtschaftliche und politische Schwäche der USA ist für jedermann klar erkennbar. Kein Anhänger der Detente kann sie im Kreml mehr wegeskamottieren. In einer solchen Situation für eine an sich jedemdritt- klassigen Staat gewährte Zollmeistbegünstigung und für „läppische Kredite von 300 Millionen“ mit einer Konzession gegenüber der eigenen Souveränität zu bezahlen, kann niemand mehr verantworten. Denn die Auswanderung von 60.000 Juden aus der Sowjetunion, von den USA erzwungen, kommt gegenüber den inneren Feinden und der arabischen Welt einer echten Preisgabe von Souveränitätsrechten gleich. Daß die dummdreisten Senatoren Jackson, Javitts und Ribicoff sich aus innenpolitischen Motiven dieses Deals auch noch brüsteten, statt selbstzufrieden zu schweigen, mag Breschnjews Situation nicht verbessert haben.

Daß Botschafter Dobrynin, selbst Mitglied des ZK und einer der De tentearchitekten, zurückberufen wurde, um mitzuhelfen, die neue Politik zu formulieren, mag bedeuten, daß zunächst kein radikaler Frontwechsel beabsichtigt ist. Aber schon die Ankündigung, man wolle den Handelsverkehr mit Westeuropa und Japan auf Kosten der USA intensivieren, deutet eine erhebliche Schwächung der sowieso notleidenden amerikanischen Zahlungsbilanz und eine zusätzliche Schwächung des Dollars an, der ohnedies wieder unter Beschuß liegt.

Im Nahen Osten dürfte das in Änderung begriffene Szenarium des Kreml zunächst taktisch einen positiven Einfluß auf die Verhandlungen mit Israel haben. Die Absage des Breschnjewbesuches könnte einfach dahingehend interpretiert werden, daß eine neue Außenpolitik auch von neuen Männern getragen werden sollte. Wenn Sadat und die konservativen Araber die Zeichen der Zeit verstehen, werden sie Israels relative Schwäche nicht überfordern und trachten, zu einer schnellen Einigung zu kommen. Denn die neuen Männer im Kreml könnten als Endziel ihrer Politik „eine mehr demokratisch strukturierte“ arabische Welt sehen wollen, in der Männer wie Feisal, Hussein, Sadat und der Schah des Iran keinen Platz mehr haben. Die kommunistischen Umtriebe in Kairo könnten dafür symptomatisch sein.

Zunächst jedoch wird das Spektakel einer Genfer Konferenz konzipiert, auf der die sowjetischen Führer für die arabische Galerie dramatische Gesten liefern werden. Wer dann noch nicht bedingungslos auf die Kremllinie einschwenkt, dürfte von den arabischen Massen weggefegt werden.

Wir befinden uns daher heute an einer Wende zu einer neuen Situation. Die wirtschaftliche Schwäche und Zerrissenheit der freien Welt öffnet dem Kreml unübersehbare Möglichkeiten. Sie stärkt seine wirtschaftliche Position, erhöht seinen Einfluß in den von wirtschaftlicher Unterbeschäftigung und Inflation geplagten Demokratien, ohne ihn zu einem besonders radikalen Stil zu zwingen. Moskau muß nicht „zum letzten Gefecht“ rufen — die gegnerischen Fronten lösen sich sowieso auf.

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