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Moskaus Anstieg zum Vorgipfel

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Spekulationen um führungspolitische Veränderungen im Kreml pflegen meist dann angestellt zu werden, wenn innerhalb des gesamten Ostblocks Unstimmigkeiten zu beobachten sind. Ende Dezemer 1967 mutete man der obersten KP-Hier- archie in Moskau eiine Auswechslung und „Wachablöse“ zu, die einer gewissen Annäherung der Standpunkte Moskaus und Pekings hätte dienlich sein können: In Wirklichkeit beobachtet man auch Ende Jänner 1968 im wesentlichen zwei Meinungsgruppen im Präsidium der KPdSU: Der Erste ZK-Sekretär Breschnew, der stets etwas offensive Chefideologe Suslov auf der einen Seite, Kossygin und einige andere (darunter vielleicht der jetzige Präsident des Gewerkschaftsbundeg, Scheljepin) anderseits.

Man wird diese Gegensätze dennoch nicht überbewerten, weil sich das heutige Kreml-Kollektiv der schwierigen Aufgaben innerhalb und außerhalb des Sowjetimperiums vollauf bewußt ist. Denn nicht allein Peking bildet den „Stein des Anstoßes“ auf dem Wege Moskaus zum einheitlich gelenkten sowjetkommu nistischen Commonwealth. Moskau, die Macht zwischen Amerika und der Volksrepublik China, hat ebenso mit Widersetzlichkeiten in dem stets ein wenig anarchistischen Kuba oder in einigen lateinamerikanischen Bruderparteien zu rechnen. Während die Sowjetunion drei Viertel der Hilfsleistungen des Weltkommunismus für Nord- und Südvietnam stellt, bekennt sich der südvietnamesische Vietkong ganz offenkundig eher zu Peking. In Hanoi selbst gibt es eine größere Anhängerschaft für Moskau, während eine kleinere Gruppe sich ebenfalls betont zur Volksrepublik China bekennt.

„Demokratisches“ Treffen?

Seit dem Ausbruch des Nahostkonfliktes am 5. Juni 1967 hat der Kreml eine frontale Stellung gegen Israel bezogen und (so nebenbei) einige Militärbasen im Mittelmeer gewonnen. Trotzdem würde die Radikalisierung eines Arabertums gegen die Israeli den Zeitplan des Kreml stören. Allzusehr sind die Russen allround beschäftigt, Hilfe auszuteilen, Revolutionen zu organi sieren, Aufbauarbeit und Beratung in Ubersee anzubieten usw.

Aber zurück nach Europa! Welche Bruderparteien bekennen sich gegenwärtig noch uneingeschränkt zur Weltführung des Kreml innerhalb des kommunistischen „Lagers“? Die Führung der heutigen DDR, Polens, Ungarns, Bulgariens, noch immer der Tschechoslowakei. Damit endet schon beinahe die Liste der Treuesten der Treuen, die am 26. Februar mit rund 70 Spitzenfunktionären aus 18 Parteien in Budapest tagen wollen.

Weshalb hat Jugoslawien seine Beteiligung an diesem Vorgipfelgespräch versagt? Warum hat Rumäniens Parteiführung sich seit dem Dezember des Vorjahres ausbedungen, daß keine Bruderpartei „verurteilt“ werden dürfe? Im Laufe des Jahres 1968 sind überdies einige Umbesetzungen und „Wachablösen“ in der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn fällig. Wie schrieb am 17. Jänner 1968 das Parteiorgan der noch vor kurzem bedingungslos für das Kreml-Kollektiv eingestellte KP der Tschechoslowakei „Rude Pravo“:

„... völlig im Gleichklang mit der Auffassung der brüderlichen Par-teien sind wir der Meinung, daß bei der Vorbereitung einer Weltkonferenz der Kommunistischen Parteien von der völligen Gleichberechtigung aller Parteien ausgegangen werden müsse; ferner, daß Meinungsverschiedenheiten nicht die Beziehungen zwischen den einzelnen Parteien belasten, sondern im Gegenteil dazu führen sollten, daß man den Versuch unternehme, auf Grund eines freimütigen Gedankenaustausches und einer sachlichen Diskussion über alle Schlüsselfragen der Gegenwart sich nach den Grundsätzen Lenins um eine Einigung der Ansichten der Bruderparteien zu bemühen. Das Budapester Treffen wird weitestgehend demokratischen Charakter haben...“

Es geht also tatsächlich um „alle Schlüsselfragen der Gegenwart“. Nicht bloß eine gemeinsame Entschlossenheit der Bruderparteien gegen Peking sollte besiegelt werden.

Ebenso müssen der Vietnamkonflikt, das schwelende Feuer im Nahen Osten und die Einstellung gegenüber Israel, die schroffe und aggressive Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland, der psychologische Krieg in den USA selbst „gledchgeschaltet“ werden. Zu schweigen davon, daß Moskau heute bereits Bruderparteien finanziert, die von dem Konflikt Kreml—Peking doppelten Gewinn schöpfen oder gar für Peking immer wieder „trotzkistisohe“ Neigungen bekunden.

Kontakte mit „Bremswirkung“

Natürlich fragt sich der Beobachter, weshalb sich Parteiführung und Chefideologen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in offiziellen und geheimgehaltenen Vor-Vor-Ge- sprächen so intensiv für die Budapester Vorbesprechung abmühen? Ist der gegenwärtige Zeitpunkt für gemeinsame Resolutionen günstig? Rumäniens Parteiführung als Sprecher des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, Italiens KP-Führung mit ihrer Kritik an einigen Leitlinien der Kremlpolitik im Mittelmeer, einige volksdemokratische Chefs mit einer unüberwindlichen Abneigung gegen den allzu forschen und „preußischen" Walter Ulbricht?

Moskau rechnet offenkundig damit,' daß sich die führungspolitische Gesamtlage innerhalb des Weltkommunismus eher verschlechtern könnte — wenn der Kreml weiterhin zusieht. Dabei zeigt sich die Partei- und Außenpolitik des Kreml elastischer, als ein Außenstehender anzunehmen geneigt ist. Die Entfernung des Prager Chefs Antonin Novotny aus dem Ersten-ZK-Sekretär-Posten ging nicht auf einen isolierten Machtspruch des Kreml zurück, sondern war zumindest optisch das Ergebnis mehrfacher Rücksprachen mit führenden Sekretären der Bruderparteien innerhalb des Sowjetblocks; das Fernbleiben Titos von Budapests Vorgipfel hinderte den sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin nicht, am 25, Jänner 1968 in New Delhi ein Dreiertreffen mit Frau Indira Gandhi und Tito-Broi zu suchen. Neben härtesten Vietnam- und Laoserklärungen des Kreml entdeckt man gemeinsame Bestrebungen der beiden Supermächte zur Einführung einer Atomkontrolle, sowjetische „Bremswirkungen“ in einigen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern usw.

Die Sowjetunion ist zweifellos die zweite Supermacht dieser Welt. Der oft vielgerühmte Vorzug des totalitären kommunistischen Führungssystems (im Vergleich zur Wahldemokratie in den USA und im Westen) schwindet allerdings in dem Maße, als Bruderparteien und Volksdemokratie, ja sogar Blocklose und Neutrale zugleich vom Kreml eine gewisse Berücksichtigung und „Mitsprache“ fordern. Diese Rücksichtnahme auf divergente Interessen bestimmt heute nicht bloß die Außenpolitik der USA, sondern ebenso die Führungstendenzen im Kreml. Auch der Budapester Vorgipfel offenbart mit all seinen Vorbereitungen, Einsprüchen und Rücksprachen die Grenzen des unbedingten Befehlens und Gehorchens im Weltmaßstab.

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