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Hoffen auf eine neue Zeit

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Die „brüderlichen Glückwünsche”, die von Osteuropas KP-Führern an den neuen Kreml-Chef Gorbatschow gerichtet wurden, ließen in ihrer traditionellen Phrasenhaftigkeit wenig erkennen. Im Verhältnis zwischen Moskau und den Vasallen in Osteuropa könnte dennoch eine neue Zeit anbrechen.

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Die „brüderlichen Glückwünsche”, die von Osteuropas KP-Führern an den neuen Kreml-Chef Gorbatschow gerichtet wurden, ließen in ihrer traditionellen Phrasenhaftigkeit wenig erkennen. Im Verhältnis zwischen Moskau und den Vasallen in Osteuropa könnte dennoch eine neue Zeit anbrechen.

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Mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter des polnischen Zentralkomitees, in Wien bei einem Seminar von der Todesnachricht im Kreml und der raschen Wahl Gorbatschows überrascht, reagierten spontan und einhellig:

„Das ist gut! Gorbatschow ist ein Pragmatiker. Und wir in Polen besonders, aber auch der ganze Block, brauchen gerade jetzt ein pragmatisches Herangehen an die Probleme.”

Der neue Hausherr im Kreml scheint diese Hof f nungen, die ihm übrigens auch in gewisser Naivität die westliche Welt entgegenbringt, vorerst nicht zu enttäuschen. In seiner ersten öffentlichen Rede auf dem Roten Platz im Rahmen der Beisetzungsfeierlichkeiten erklärte Gorbatschow unter anderem wörtlich: „Unsere Partei wird auch weiterhin alles tun, um die wechselseitige Zusammenarbeit mit den brüderlichen kommunistischen Parteien fortzusetzen und ihre Positionen in internationalen Fragen zu steigern.”

Mehr Worte verlor der — vorschnell als „Kreml-Softie” und „Reformer” etikettierte—Gorbatschow nicht.

Eben aufschlußreich ist das nicht — und dennoch bedeutsam. Vor allem, wenn man vergleicht, was der Vorgänger im Moskauer Machtzentrum, Konstantin Tschernenko, bei seinem Machtantritt im Februar 1984 zum selben Thema zu sagen hatte.

Tschernenko verwendete damals - in seiner Ansprache an das ZK und dann am Roten Platz - im Hinblick auf Osteuropa dreimal den Begriff des „proletarischen Internationalismus”. Das war ein vernehmliches Peitschenknallen, verbindet sich doch mit diesem Begriff etwa die Rechtfertigung für den bewaffneten Einmarsch der Warschauer Pakt-Armeen in der CSSR im August 1968. Das war typisch für den „Ideologen” Tschernenko — und es war, wie sich aus einer Reihe von Indizien schließen ließ, das erklärte Ziel dieses alten und kranken Mannes, die Zügel im osteuropäischen Vorfeld anzuziehen.

Auch die Ereignisse während der nur knapp 13 Monate langen Amtszeit Tschernenkos legten davon Zeugnis ab:

Honecker wurde von Moskau zurückgepfiffen und verschob seinen Besuch in Bonn, in „vorauseilendem Gehorsam” gegen-

über Moskau folgte diesem Beispiel Bulgariens Staats- und Parteichef Todor Schiwkoff. Es war auch kein Zufall, daß es unter Tsehernenko die mit dem ideologischen Florett ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten über die Entspannungspolitik und Westkontakte gab, die eine seltsame Koalition schmiedeten: Moskau und Prag auf der einen Seite, Ostberlin, Budapest und Bukarest auf der anderen.

Tschernenko, selbst im Umgang mit den „Bruderstaaten” wenig

„Die osteuropäischen Führer wissen bei Gorbatschow, woran sie sind ...” auslandserfahren, hatte auch kein „persönliches” Verhältnis zu den osteuropäischen Führern. Seine von der Ideologie her bestimmte rigide Religionsfeindlichkeit mag z. B. jenen dogmatischen Kräften in Polen Auftrieb gegeben haben, die zu einer dramatischen Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat im Land an der Weichsel so entscheidend beigetragen haben.

Verglichen mit Tschernenko also kann sich das Verhältnis zwischen Osteuropa und Moskau nur „verbessern” — unter dem neuen Mann Gorbatschow.

Als gelehriger Schüler des verstorbenen Andropow, der Ordnung und Disziplin in die versumpfte sowjetische Wirtschaft bringen wollte und auch beschränkte Reformansätze für die Ökonomie entwickelte, hat Gorbatschow in früheren Reden Sympathie für wirtschaftspolitische Experimente erkennen lassen. So unterschiedlich diese auch - etwa in Ungarn, der DDR oder Bulgarien — vom Ansatz her sein mögen, so sind sie doch Versuche, das verkrustete und erstarrte System „schöpferisch” weiterzuentwickeln.

Da Gorbatschow auch für die Sowjetwirtschaft ähnliches im Sinne haben mag, ist er den osteuropäischen Experimentierfeldern gegenüber aufgeschlossen. Dabei scheint er ebenso wie Andropow ein besonders enges Verhältnis zu Ungarn zu haben.

Ziemlich vertaut ist der neue Mann im Kreml — aus kommunistischer Sicht — auch mit der „deutschen Frage”. Er hat häufige Kontakte zur SED in der DDR gepflogen, aber auch die DKP in der BRD in seine Gespräche einbezogen.

Insgesamt scheint die Präsentation über den Tschernenko-Tod und die Wahl Gorbatschows zum Nachfolger in den Massenmedien Osteuropas eines zu signalisieren:

Eine gewisse Überraschung, aber auch Zustimmung dafür, daß die Nachfolgefrage so rasch und entschlossen über die Bühne gebracht wurde. Daß die osteuropäischen Zeitungen, ohne auf das „Beispiel” der sowjetischen warten zu können, den Tod Tschernenkos und die Wahl des „Neuen” gleichrangig behandelten, ist nicht mehr als ein kleiner Lapsus (Die sowjetischen Massenmedien hatten den Toten ja auf die zweite Seite gedrängt).

Klare Machtverhältnisse im Kreml, eine reibungslose Staffet-tenübergabe, das bisherige politische Profil Gorbatschows und nicht zuletzt seine relative Jugend sind für die osteuropäischen Führer sicherlich angenehm: Sie wissen, woran sie sind, sie können sich auf eine lange berechenbare Herrschaft einrichten. Die Periode der Unsicherheit, Entschei-dungslosigkeit in Moskau ist vorbei.

Die Nagelprobe, wie sich das Verhältnis Moskau - Osteuropa entwickeln kann, steht unmittelbar bevor. Die Verlängerung des 1955 für 20 Jahre geschlossenen und 1975 um nur 10 Jahre verlängerten Warschauer Vertrages steht wiederum an.

Beratungen darüber in Warschau sind im September 1984 ergebnislos verlaufen. Rumänien hat — wieder einmal - „gebockt” und eine Verlängerung um nur fünf Jahre befürwortet, obwohl es beim Parteikongreß sich als er-

„Gorbatschow wird vorerst kaum den traditionellen Rahmen verlassen” stes Pakt-Land prinzipiell und definitiv für eine Verlängerung ausgesprochen hat.

Daß dies keine bloße politische Kaffeesuddeuterei ist, hat Anfang März die Budapester Gewerkschaftszeitung „Nepszava” zugegeben. Sie sprach von „Disputen” unter den Vertragsstaaten und fügte an:

„Vereinbarungen können nur bei angemessener Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen erzielt werden.” Differenzen bestünden sowohl hinsichtlich der politischen Praxis als auch über die Methoden des politischen Aufbaus.

Man darf gespannt sein, wie die „Dispute” und „Differenzen” unter Gorbatschow gelöst werden. Das wird erstens Aufschluß liefern, wie sich das Verhältnis Moskaus zu seinem Vorfeld entwik-kelt.

Vor Illusionen sei gewarnt: Gorbatschow wird vorerst kaum den traditionellen Rahmen verlassen. Schließlich ist er Parteichef einer äußerst rigiden, machtbewußten und imperialen KP -und kein Oppositioneller oder Herold osteuropäischer Freiheiten.

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