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Byzantinisches Schauspiel

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Der Warschauer Pakt hat mit der Gipfelkonferenz von Warschau vergangene Woche und der Verlängerung des Bündnisses um 20 Jahre den Schritt ins nächste Jahrtausend getan. Ein Signal für Optimismus, Siegeswillen und Zukunftsgläubigkeit? Wohl kaum.

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Der Warschauer Pakt hat mit der Gipfelkonferenz von Warschau vergangene Woche und der Verlängerung des Bündnisses um 20 Jahre den Schritt ins nächste Jahrtausend getan. Ein Signal für Optimismus, Siegeswillen und Zukunftsgläubigkeit? Wohl kaum.

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Uber dem Militärbündnis des Ostblocks schweben heute mehr denn je Fragezeichen; so sicher und gesichert ist der Zusammenhalt in der Zukunft und bis ins nächste Jahrtausend nicht.

Schon die Vorgeschichte des Gipfels in Warschau und das Tauziehen innerhalb des Blocks um die Verlängerung gaben zu denken.

Geplant war das byzantinische Schauspiel noch von Staats- und Parteichef Tschernenko, dessen verfallende Gesundheit aber es nicht mehr erlaubte, die „Kampfbrüderschaft im Zeichen des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus” persönlich abzusegnen. Es kam zum Personenwechsel in Moskau.

Die Verlängerung des am 14. Mai 1955 geschlossenen Warschauer Vertrages um weitere 20 Jahre war nicht unumstritten. Rumänien, aber auch Ungarn hätten es gerne gesehen, das Bündnis fünf oder höchstens zehn Jahre lang weiter auszudehnen.

Die ungarische Zeitschrift „Nepszava” sprach offen von „Differenzen” innerhalb des Blocks, bis dann Ende März der polnische Partei- und Regierungschef Jaruzelski vermelden konnte, hinsichtlich der Verlängerung bestehe unter den Mitgliedern des „Bündnisses volle Ubereinstimmung”.

Nun wäre es sicherlich falsch, diese bestehenden und schließlich ausgeräumten Differenzen überzubewerten. Das östliche Militärbündnis ist — zumindest kurzfristig betrachtet — stabiler als man geneigt ist in verführerischem Wunschdenken anzunehmen.

Die „Nomenklatur”, also die dünne herrschende Schicht in den kommunistischen Ländern Osteuropas, ist naturgemäß an der Erhaltung des Paktes im Interesse persönlicher Machtausübung so interessiert wie der Großteil der Bevölkerungen Osteuropas lieber heute als morgen aus der Vertragsfessel schlüpfen möchte.

Mittel- und längerfristig scheint der Bestand des Bündnisses aber keineswegs so sicher. Auch die „Nomenklaturisten” von Warschau bis Sofia, von Prag bis Budapest, von Bukarest bis Ostberlin bemühen sich, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, ihre nationalen Interessen innerhalb des Bündnisses zu wahren.

Dafür hat es gerade im vergangen Jahr deutliche Hinweise gegeben.

Das „sozialistische Lager” hat zwar einen gemeinsamen Nenner in außen- und sicherheitspolitischen Existenzfragen - aber das heißt keineswegs Gleichschritt nach der Moskauer Trillerpfeife.

Die ökonomische Lastverteilung innerhalb des Bündnisses, ja selbst die wirtschaftliche Entwicklung verläuft durchaus nicht gleichmäßig, sondern disproportional, was die Fugen knirschen läßt. So wenden die osteuropäischen Alliierten der UdSSR nur ein Fünftel bis ein Zehntel dessen für Verteidigung auf (berechnet auf Pro-Kopf-Basis), was die Sowjetunion leistet. Das kann - aus Moskauer Sicht - nicht so weitergehen und wird in der Zukunft ein Konfliktpotential größten Ausmaßes sein.

Entgegen der landläufigen Meinung, der Warschauer Vertrag und erst recht die Wirtschaftsgemeinschaft RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) sei ein Instrument der sowjetischen Ausbeutung Osteuropas — das Gegenteil ist wahr.

Angesehene westliche Wirtschaftswissenschaftler (zum Beispiel Lavigna von der Pariser Sorbonne) haben schlagend nachgewiesen, daß Moskau für die politische Absicherung seines osteuropäischen Glacis (durch den Warschauer Pakt, die „Bre-schnew”-Doktrin von der begrenzten Souveränität der sozialistischen Länder) wirtschaftlich einen hohen Preis zu zahlen hat.

Vor Generationenablöse

Die osteuropäischen RGW-Länder haben sich von 1976 bis 1983 mit 16,5 Milliarden Dollar bei der UdSSR verschuldet. Rechnet man die Opportunitätskosten hinzu (Kosten, die durch entgangenen wirtschaftlichen Nutzen entstehen, Stichwort: sowjetische Öllieferungen nach Osteuropa), wird ganz offenkundig, daß das sowjetische „Kolonialreich” in Osteuropa (so wie letztlich alle kolonialen Unternehmungen) unter dem Strich mehr kostet als es wirtschaftlich einbringt.

Deshalb sind auch von da her durchaus schwerwiegende Konflikte für die Zukunft zu erwarten.

Ein weiteres Fragezeichen über dem Warschauer Pakt ist die Generationenablöse, die sich in den nächsten Jahren an der Spitze nahezu aller osteuropäischen Länder vollziehen wird und muß.

Die führenden Männer in Bulgarien, der CSSR, Ungarn und der DDR sind alle über 70 Jahre alt. Die Führer Polens und Rumäniens sind auf Grund ihrer internen Probleme und wirtschaftlichen Schwierigkeiten absolut nicht so fest im Sattel, wie es Moskau und ihnen selbst lieb wäre.

Macht- und Personenwechsel in kommunistischen Systemen sind aber stets ein Element der Unsicherheit, weil sie teilweise „unre-guliert” und daher unberechenbar ablaufen.

Der neue Kremlchef Gorbatschow muß um diese Unwägbarkeiten und Probleme der Zukunft des Paktes wissen. Er hat sehr vorsichtig von der „organischen Verbindung der nationalen und internationalen Interessen der Vertragsstaaten” gesprochen.

Das scheint das verklausulierte Eingeständnis, daß — gleichgültig ob Moskau die Zügel in Osteuropa schleifen läßt oder anzieht — der Warschauer Pakt durchaus nicht problemfreien Zeiten entgegengeht.

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