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Am Anfang der Ära Gorbatschow

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So manche westliche Medien zeichneten vom neuen Kreml-Chef das Bild eines politischen Super-mannes. Doch auch Michail Gorbatschow sind die Hände gebunden.

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So manche westliche Medien zeichneten vom neuen Kreml-Chef das Bild eines politischen Super-mannes. Doch auch Michail Gorbatschow sind die Hände gebunden.

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Vor etwas mehr als einem Jahr kommentierte die FURCHE den Machtwechsel im Kreml von An-dropow zu Tschernenko und schrieb unter anderem: „Worauf es einem kommunistischen Regime ankommt, ist die Beibehaltung der Macht und der Kontrolle. Radikale Reformen sind deshalb gefährlich, weil sie die Kontrolle und im weiteren Sinne die Macht gefährden könnten.”

Und weiter: „Das Sowjetsystem schafft Zwänge, denen sich kein KPdSU-Vorsitzender entziehen kann. Will er nicht seine Position gefährden, hat er sich wohl oder übel den Wünschen der Nomenklatura anzupassen. Das Ergebnis ist die Starrheit - will man es positiv sehen: die Stabilität — dieses Systems. Den machtpolitischen Rahmen kann und will Tschernenko nicht sprengen.”

Was für die kurzlebige Ära Tschernenko zutraf, das gilt auch ganz gewiß für die neu angebrochene Ära Gorbatschow. Und wenn dieser Tage auch noch so sehr gerade in den westlichen Medien, aber auch in den osteuropäischen Staaten in Moskaus Machtbereich Hoffnungen auf eine neue Politik an den neuen Mann im Kreml geknüpft werden (siehe dazu Seite 7): auch Michail Gorbatschow ist ein Gefangener des Sowjetsystems, von dem kurz-und mittelfristig wohl kaum Wunder zu erwarten sind.

Denn was weiß man heute wirklich über den neuen KPdSU-Chef, worauf lassen sich bei ihm denn tatsächlich konkrete Hoffnungen auf einen Kurswechsel knüpfen?

Der Indizienkatalog, der eine neue Politik signalisieren könnte, ist jedenfalls nicht allzu lang. Gewiß, nachdem man es in den letzten Jahren gleich mit drei dahin-kränkelnden greisen Kreml-Führern zu tun gehabt hatte, wirkt die Erscheinung Gorbatschows geradezu erfrischend.

Bei seinen bisherigen Aufenthalten im Westen—in Kanada und zuletzt in Großbritannien — imponierte er seinen Gesprächspartnern durch sein souveränes Auftreten und ließ auch einen Schuß Humor nicht vermissen. Dazu kommt auch noch — wie einige Medien herausstrichen — eine attraktive Frau zum Herzeigen, als ob das von irgendeiner politischen Relevanz wäre.

Wie auch immer: Gorbatschow verspricht vielleicht einen bis jetzt nicht gekannten Stil in der sowjetischen Politik. Und den bisherigen Reaktionen nach zu schließen gelingt es ihm auch, mit diesem Stil die Kremlpolitik besser nach außen hin zu „verkaufen”.

Indessen: Dies sind stilistische Fragen. Was die Sowjetunion aber gerade in der nächsten Zeit dringend brauchen wird, sind substantielle Veränderungen, Reformen, die an die Wurzeln reichen — vor allem im wirtschaftlichen Bereich (siehe dazu nebenstehenden Beitrag).

Doch auf eben solche substantiellen Veränderungen deutet bis jetzt in den programmatischen Erklärungen Gorbatschows wenig hin. Vielmehr scheint es, daß der neue Mann lediglich bei An-dropows Politik der Disziplinierung und der bescheidenen Reformansätze anknüpfen will.

Wie bekannt, war diesen politischen Bestrebungen nicht allzu viel Erfolg beschieden, vor allem auch, weil sich die schwerfälligen Bürokratien dagegen stemmten. Das aber zeigt: Wichtig sind nicht nur die Machtkonstellationen im Kreml selbst. Wichtig ist im sowjetischen politischen System bei der Planung und Durchsetzung von wirtschaftlichen und politischen Veränderungen gerade auch die untere und mittlere Funktionärsebene in den Republiken und autonomen Regionen. Und diese Genossen von Reformen zu überzeugen — wenn Gorbatschow solche wirklich ernsthaft anstreben sollte —, mag auf lange Sicht vielleicht schwieriger sein, als eine breite Machtbasis in Partei- und Regierungsstellen aufzubauen.

Vor übertriebenem Optimismus am Anfang der Ära Gorbatschow sei deshalb nachdrücklich gewarnt. Die Feuerproben stehen dem neuen KPdSU-Chef erst noch bevor.

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