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Äußerste Skepsis

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Einige in der Bundesrepublik lebende russische Dissidenten beurteilen die Reformbemühungen Michail Gorbatschows mit äußerster Skepsis. Am Montag dieser Woche präsentierten Vertreter dieser Gruppe in den Räumen der Bonner Redaktion der Zeitschrift „Kontinent" ihre Bedenken der Öffentlichkeit.

Der Historiker Michael Vos-lensky, seit 1977 österreichischer Staatsbürger und jetzt Direktor des Forschungsinstitutes für sowjetische Gegenwart in München, betonte, daß es bereits zwei Reformphasen in der Sowjetunion gegeben habe, nämlich die neue ökonomische Politik (NEP) Lenins 1921 bis 1927 und die Reform-’ phase Chruschtschows ab 1953 (Entstalinisierung).

Beide sind gescheitert an der Angst der herrschenden Klasse (Nomenklatura) vor den Reformen. StaUn und Breschnjew haben nach ihrer Machtübernahme diese Phasen gestoppt.

Nun habe Gorbatschow die dritte Reformphase eingeleitet, aber nach Voslensky wird er genauso scheitern wie vor ihm Chruschtschow. Nach dem ehemaligen Berater der DDR-Regierung, Professor Seifert, ist der Gorbatschow-Reformkurs lediglich auf eine Effektivitätssteigerung im Rahmen des zentralistischen Plansystems begrenzt. Echte Reformen sind nicht in Sicht. So gebe es zum Beispiel weiterhin noch keine Bewegungsfreiheit in der UdSSR.

Zwar sind einige Dissidenten freigelassen worden, aber eine weitaus größere Zahl sitzt noch im Gefängnis oder in Lagern. Die gegenwärtigen, zum Teil spektakulären Freilassungen seien eindeutig in Richtung Westen erfolgt, um das Ansehen der Sowjetunion zu verbessern. Gorbatschow habe lediglich erkannt, daß sein Land Gefahr laufe, den Rang als zweite Weltmacht zu verlieren. Für ihn war daher die Initiierung eines Reformkurses die einzige Möglichkeit, technologischen Rückstand aufzuholen. Aber er will und kann nicht die Macht der Nomenklatura gefährden.

So wurde auch von einem russischen Literaturwissenschaftler erläutert, daß sich der Stil, die Ausdrucksweise und der formale Aufbau der Reden Gorbatschows von denen seiner Vorgänger in keiner Weise unterscheide, was deutlich auf die Systemimmanenz des Generalsekretärs der KPdSU hinweise.

Es wurde auch allgemein vor den gegenwärtigen Abrüstungsvorschlägen gewarnt, die in der Substanz gegenüber früheren nichts Neues bringen. Solange die Sowjetunion keine detaillierten Vorschläge zur Kontrolle von Abrüstungsverträgen mache, sei Skepsis gegenüber diesen angebracht. Wie man sich überhaupt über die eilfertige Sympathie gegenüber dem Gorbatschowschen Reformkurs in gewissen Kreisen des Westens nur wundere.

Hinter den Warnungen der russischen Dissidenten zu mehr Vorsicht bei der Beurteilung der gegenwärtigen Vorgänge in der Sowjetunion steht nicht nur die leidvolle Erfahrung dieser Personen, sondern auch die Kenntnis des sowjetischen Macht- und Ideologiesystems.

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