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Machiavelli aus dem Kaukasus

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Selten ist in den westlichen Medien über einen Sowjetführer so viel gemutmaßt und geschrieben worden. Aber wer ist dieser rätselhafte Mann an der Spitze der UdSSR wirklich?

Gute Bücher über Rußland sind selten. Andrej Andrej e witsch Wlassow, zuerst Stalins Vorzeigegeneral und später Uberläufer zu den Armeen Hitlers, prägte den bekannten Satz: „Rußland ist nur durch Russen zu besiegen!“ In der Tat, seit Alexander Newski 1240 in der Eisschlacht auf dem Paipus-see die Ritterorden schlug, haben fremde Heere auf dem Boden Rußlands keine Chance.

Ist aber dieses weite Land und dessen politische Entwicklung nur durch Russen zu begreifen? Fehlt es westlichen Autoren an Einfühlungsvermögen, um das sowjetische System richtig interpretieren zu können? Das bislang beste Werk über das politische Establishment in der UdSSR heißt „Nomenklatura“ und stammt vom ehemaligen sowjeti-

sehen Wissenschafter Michael Voslensky. Jetzt haben Alexander Rahr und Nikolaj Poljanski, zwei im Westen lebende russische Autoren, den Versuch unternommen, eine umfassende Biographie des KPdSU-Chefs Michaü Gorbatschow zu verfassen. Als ehemaliger Sowjetdiplomat kennt Nikolaj Poljanski das Sowjetsystem wie kein zweiter. Die beiden kennen auch das nordkaukasische Gebiet um Stawropol, wo Michail Gorbatschow zur Welt kam, aus eigener Erfahrung. Sie haben sowjetische und exilrussische Quellen der Nachkriegszeit studiert.

Für den Jugendlichen Gorbatschow war der Krieg ein wichtiges Erlebnis. Dem US-Senator Storm Thurmond vertraute Gorbatschow in einem Gespräch an, daß sein Vater an die Front geschickt wurde, während er selbst auf dem vom Feind besetzten Territorium zurückblieb. Rahr und Poljanski zitieren den exilrussischen Journalisten Aleksej Alymow (alias Boris Schirajew), der den Einmarsch der Deutschen in Stawropol in den Augusttagen 1942 selbst erlebt hat: „Die Machthaber waren von der Schnelligkeit des deutschen Angriffs völlig überrascht. Am nächsten Morgen standen vor den Kiosken lange Warteschlangen. Jeder wollte die erste Nummer der russisch-nationalen Zeitung „Stawropoloer Nachrichten“ kaufen. In den Schulen wurde Religionsunterricht eingeführt..“

Diese Zeüen aus der russischen Exilzeitschrift „Tschassowoj“ werfen auch einige Fragen auf: Welchen Eindruck hat die deutsche Besatzungsmacht auf den jungen Gorbatschow hinterlassen? Hat Gorbatschow auch den Religionsunterricht besucht?

Von allen Parteiführern der Sowjetunion unterscheidet sich Gorbatschow darin, daß er den Zweiten Weltkrieg nur passiv miterlebt hat. Sein langjähriger Mentor, der Parteiideologe Michail Suslow leitete zum Beispiel die stalinistischen Nachkriegssäuberungen in Stawropol. Jurij Andropow, ein weiterer Gönner Gorbatschows, führte die karelischen Komsomolzen im Partisanenkampf, Leonid Breschnew tat sich als Politkommissar der 18. Armee hervor.

Nach der offiziellen Biographie diente Gorbatschow nicht einmal in den Reihen der Sowjetarmee.

Wie ist aber sein kometenhafter Aufstieg zu erklären? Wer ist denn überhaupt dieser Kauka-sier, der zwar das Rauchen auf

dem Roten Platz verbieten will, um das Grab Lenins nicht zu „entweihen“, der gleichzeitig seinen unehelichen Sohn diskret mit Geschenken überhäuft, ihm aber verbietet seinen Namen zu tragen? Ein Kleinbürgertyp aus Tschechows Personengalerie, ein Machtbesessener oder nur ein Opportunist?

Aufgrund von Erinnerungen einiger Komilitonen die mit Gorbatschow in den fünfziger Jahren an der Juridischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität studierten, versuchte die Reagan-Administration vor dem Gipfeltreffen in Genf eine Art „Psychogramm“ des sowjetischen Parteichefs zu erstellen. Doch die Arbeit wurde bald fallengelassen.

Erstens lagen die Erinnerungen der ausgefragten Mitschüler 30 Jahre zurück. Zweitens sei Gorbatschow keineswegs eine so schillernde Persönlichkeit gewesen, an die man sich nach so langer Zeit hätte erinnern müssen, erklärten seine Studienkollegen. Der in Wien lebende ehemalige tschechische ZK-Sekretär Zde-nek Mlynaf beschreibt zwar Gor-

batschow als „hochintelligent, offen und loyal“. Doch was heißt das schon in Wirklichkeit?

Im Sowjetsystem wird auch die höchste politische Karriere nicht viel anders gemacht als bei uns im Westen. Familiäre Beziehungen spielen dabei eine beträchtliche Rolle. Gorbatschows Ehefrau Raissa, geborene Tintorenko, ist eine der Nichten Andrej Gromy-kos.

Für Gorbatschow war es von entscheidender Bedeutung, daß er schon als junger Parteichef in Stawropol den Eingang in die vom Parteiideologen Suslow gesponserte „kaukasische Gruppe“ fand. Dazu gehörten prof essionel-

le Tschekisten und Geheimdienstler wie der langjährige KGB-Chef Jurij Andropow. Andropow war ein Landsmann Gorbatschows. Er wurde in Nagutskaja, unweit von Stawropol, geboren. Zu den „Kau-kasiern“ zählte auch Geidar Aliew, der bekannte Parteichef von Azerbeidschan. Er hatte in der Nachkriegszeit bei den berüchtigten Säuberungskommandos der Geheimpolizei, den sogenannten „Smersch“ (russische Abkürzung für „Smert spionam“ = Tod den Spionen) mitgewirkt. Der jetzige Außenminister und Gorbatschow-Intimus Eduard Schewardnadse gehörte ebenfalls zur „kaukasischen Gruppe“. Der Georgier hatte sich einen Namen als Saubermann in seiner Heimatrepublik gemacht, vor allem im Kampf gegen Schwarzhandel und Korruption.

Der Hintergrund: In den sechziger Jahren erreichte der Schwarzhandel in Georgien ungeheuerliche Dimensionen. Die Schwarzhändler waren in der Lage, selbst Minister und ZK-Sekretäre auf der Republiksebene abzusetzen. Schewardnadses „Säuberungsaktion“ wurde vom KGB initiiert und geleitet. Der frühere Häftling Georgi Tsirekidse berichtet in einem Samizdat-Interview, Schewardnadse habe ihm beim Verhör regelmäßig Geld angeboten, damit er seine Mithäftlinge verprügele.

Eine direkte Mitgliedschaft beim KGB kann Gorbatschow nicht nachgewiesen werden. Trotzdem arbeitete Gorbatschow für die Geheimpolizei, ohne eigentlich dabeigewesen zu sein.

Der ehemalige Parteifunktionär aus Stawropol und spätere Dissident Nikolaj Schatalow schildert in der Emigrantenzeitschrift „Nowoe Russkoe Slowo“, wie ihn Gorbatschow tagelang verhörte, als er 1972 den Ausreiseantrag gestellt hatte. Vor allem die beiden Kinder Schatalows seien von Gorbatschow unter Druck gesetzt worden, berichtet die Emigrantenzeitschrift. Wie dem auch sei, eine Mitarbeit beim KGB ist in der UdSSR nach wie vor die beste Empfehlung für die Parteioberen. Trotzdem wäre Gorbatschow niemals von Stawropol ins Parteipräsidium nach Moskau gewechselt, hätte er nicht die mächtige Fürsprache eines Suslow und später des Parteichefs Jurij Andropow gehabt.

Daß Gorbatschow nach dem Tode Andropows der Sprung ins

höchste Amt der Partei doch nicht gelang, ist auf den Widerstand der Leningrader Parteibürokratie zurückzuführen. Gorbatschows Widersacher hieß Grigorij Romanow. Zwischen den Parteizentren von Moskau und Leningrad gibt es seit Jahrzehnten Spannungen. Die Leningrader Parteichefs Sergej Kirow (1934) oder Frol Kozlow (1964) scheiterten an ihren Rivalen aus dem Moskauer Stadtkomitee. In Moskau einigte man sich dann nach dem Tode Andropows auf den Kompromißkandidaten Konstantin Tschernenko, um vorerst der Leningrader Lobby im ZK den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Nach dem Tode Tschernenkos mußte der Leningrader Kandidat Romanow das Feld räumen. Eine vollständige Entmachtung war dann nur noch eine Frage der Zeit.

Gerade bei der Auseinandersetzung mit dem Rüstungsbefürworter und „Hardliner“ Romanow wies Gorbatschow immer wieder auf die von ihm propagierte „neue Linie der Partei“ hin. Der „neuen Linie“ folgten bald Säuberungen im ganzen Parteiapparat. Doch was mit der „neuen Linie“ wirklich gemeint ist, bleibt unklar.

Die Anti-Alkoholismus-Kampagne ist möglicherweise ein Teil

dieser Politik. Oft spielt der „Machiavelli aus dem Kaukasus“ (so eine italienische Zeitung) auch mit den patriotischen Gefühlen des russischen Volkes. Kann Gorbatschow an die nationalen und religiösen Gefühle des russischen Volkes appellieren, um seine „neue Linie“ verwirklichen zu können? Dies ist eher unwahrscheinlich, weil die russisch-orthodoxe Kirche nach wie vor als Feind Nummer eins des Regimes gilt.

Bleibt noch die Außenpolitik, ein bevorzugtes Betätigungsfeld des sowjetischen Parteiführers. Hier werden oft Töne laut, die stark an die außenpolitischen Propagandavorstöße aus der Chruschtschow-Zeit erinnern. „In Amerika beginnt bald die-Nach-Reagan-Ära. In China wird Deng Xiaoping nicht mehr lange an der Spitze bleiben.“ Fazit: In allen wichtigen Ländern werden demnächst Politiker das Sagen haben, von denen die UdSSR mehr Verständnis für ihre Sicherheitsprobleme erwarten kann. Dazu Rahr und Poljanski: „Dank dem reichlich vorhandenen Vorrat an Angst läßt sich die Sowjetgesellschaft mit flexiblem Unterdrückungssystem behebig lenken.“ Und das nützt der „neue Mann“ Gorbatschow weidlich aus.

GORBATSCHOW: DER NEUE MANN. Von Nikolaj Poljanski und Alexander Rahr. Uni-versitas Verlag, München 1986. 350 Seiten, geb.. öS 296.40.

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