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Kreml läßt Zügel locker

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Sieben Dezennien nach der Oktoberrevolution steht die Realität der langsam anlaufenden sowjetischen Reformen auf dem Prüfstand. Eine „zweite Revolution“ ist nach dem Reformator Michail Gorbatschow notwendig, wenn die Sowjetunion eine Großmacht nicht allein aufgrund ihrer militärischen Stärke sein will.

Ohne Reform bleibt der rote Koloß auf der Wirtschaftsstufe eines Entwicklungslandes stehen (siehe dazu auch Seite 5). ökonomischer Wandel ohne gleichzeitige politische Veränderungen verläuft jedoch im Sand. Das hat Gorbatschow von den “halbherzigen und deshalb letztlich erfolglosen Experimenten seines Vorgängers Nikita Chruschtschow

gelernt. Schon aus diesem Grunde ist der Kremlherr bereit, Risiken einzugehen. *

Von der Warte des Parteichefs aus ist die Entlassung von Andrej Sacharow aus dem Exil in Gorki ein Wagnis; mehr noch die volle Rehabilitierung des Nobelpreisträgers als Patriot und als Wissenschaftler. Auf diese Weise ist der prominenteste Kämpfer um Menschenrechte — von Schweigepflicht und anderen Fesseln befreit — so etwas wie „loyale Opposition“ in einem Staat, der das Monopol der Partei unangetastet läßt.

Konzession an die Weltmeinung oder echter Wandel?

• Mit Sicherheit das erste. Der beschwichtigenden Wirkung im Westen kann der Kreml gewiß sein. Zudem öffnen sich für Moskau wieder wirtschaftliche Kanäle, die durch Sacharows Tortur versperrt gewesen waren. Zwölf Jahre nach Helsinki wird bei der Folgekonferenz in Wien erneut der Finger auf Moskaus eklatante Verletzung menschlicher Grundrechte gelegt.

Doch Gorbatschow geht in die Offensive und erwägt die Einberufung einer internationalen Menschenrechtskonferenz in Moskau.

Der Fall Sacharow gibt diesem Vorhaben kaum mehr Sinn, wohl aber den Anschein von Glaubwürdigkeit. Sacharows Persönlichkeit ist vom Kreml in seiner Wirkung auf die freie Welt vorprogrammiert: er äußert sich sogleich nach seiner Ankunft in Moskau gegen Ronald Reagans SDI-Programm und entspricht damit den Intentionen der Machthaber, die darob die Rüge im selben Atemzug an die eigene Adresse—starres Kleben an „Star wars“ und dadurch Verbauen von echter nuklearer Abrüstung — gelassen hinnehmen.

• Mit Einschränkung auch tiefgreifender Wandel. Demokratisierung ist mit einem Mal im roten Reich das geflügelte Wort. Nicht daß sich am Firmament Pluralismus oder echte Demokratie, Zulassung von Oppositionsparteien und institutionalisiertes Dissi-dententum zeigten (siehe auch nebenstehendes Interview). Allein innerhalb des sakrosankten Systems wird der Platz für Kritik ausgeweitet.

Die vielgerühmte „Glasnost“ (Offenheit) gewinnt an Boden. Die Zügel für darstellende Kunst, Literatur und Publizistik werden, wenn auch zaghaft, gelockert.

In der uniformen Presse kommen Probleme aufs Tapet, deren Existenz vorher geleugnet worden war (Drogensucht, Demon-

strationen). Dermaßen ermutigt Gorbatschow eine Entwicklung, die er braucht: nicht den Einfluß sturer, unbeweglicher Parteibürokraten, sondern den Vormarsch entschlußfähiger, kritischer Wirtschaftsmanager, ohne die das ökonomische System nie und nimmer aus seiner Lethargie erwacht.

Auch ohne Sacharow besteht der Gulag freilich weiter. Paradedissidenten wie Nathan Schtscha-ranski und Juri OrlowÄvurden befreit, aber gleichzeitig in den Westen abgeschoben. Dasselbe geschah mit der Lyrikerin Irina Ra-tuschinskaja. Zu viele schmachten noch in Kerkern und Arbeitslagern: zwischen 2.000, wie der Historiker Roi Medwedjew schätzt, und — nach der Rechnung Schtscharanskis — dem Zehnfachen.

Mit der. Freilassung Sacharows und der illegalen Friedenskämpferin Larissa Tschukajewa ist der Anfang gemacht. Andere werden folgen, wahrscheinlich noch viele, je näher das 70-Jahr-Jubiläum der Oktoberrevolution kommt.

Zur selben Zeit rechnet Gorbatschow ganz offen mit Leonid Breschnew, dem Inbegriff eines konservativen Kommunisten, ab. Alle „Andersdenkenden“ wurden wegen sogenannter antisowjetischer Propaganda und wegen Verbreitung falscher Informationen über den Sowjetstaat verür-' teilt. Diese Kritik aus dem Untergrund richtete sich vornehmlich gegen Breschnew, seine Irrtümer und Fehlentscheidungen.

Dasselbe enthüllt Gorbatschow mit steigendem Nachdruck. Die Befreiung Sacharows zeigt, daß die Reformer das deutliche Ubergewicht errungen haben. Solchermaßen ist die legale Berechtigung für eine Befreiung größeren Aus-masses gegeben. Unterbleibt sie, dann sind dem Kremlchef auch die Früchte versagt, die er aus riskanten Entschlüssen zu ernten hofft: Annäherung des Westens und westliche Investitionen in der Sowjetunion.

Allen existierenden Anzeichen nach bleibt Gorbatschow nicht auf halbem Wege stehen.

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