6841343-1975_46_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Deformation

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Tageszeitung an einem Wochenende. Man schreibt den 8. November 1975, das sind 58 Jahre und ein Tag nach der russischen Oktoberrevolution. Das politische Politbüromitglied Pelsche sagt in Moskau, daß „gewisse Leute im Westen die Verwirklichung der Menschenrechte in der Sowjetunion kritisieren“. Dafür sei kein Grund; Sacharow und seine Dissidenten mißdeuteten eben den „ideologischen Kampf gegen bourgeoise Ideen“ — meint Pelsche.

In Patras, Griechenland, werden am gleichen Tag zwölf griechische Polizisten wegen Folterungen während der Zeit des Militärregimes verurteilt. Und meine Tageszeitung berichtet auch von der Sprengung eines Nachrichtensenders in Lissabon. Begründung der befehlenden Junta: Der Sender habe „konterrevolutionäre Aktivitäten“ gesetzt. Ich blättere um und finde die Meldung, daß in Bangladesh eine neue Militärdiktatur die alte abgelöst hat — mit Massakern im Zentralgefängnis von Dacca; und daß man wieder Leichen eines Massenmordes in Angola auffand. Ich bin froh, daß sich die irakische Nachrichtenagentur geirrt hat. Der holländische Jude Alexander Aaronson, der im Irak wegen Spionage für Israel zum Tode verurteilt wurde, ist noch aicht hingerichtet.

Man sollte gelegentlich Bilanzen ziehen. Im dreißiger Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im dreißiger Jahr der Gründung der Vereinten Nationen sind tatsächlich jene Territorien auf der Landkarte mühsam abzusuchen, in denen Menschen- und Bürgerrechte, wie sie etwa auch die UNO-Charta statuiert, nicht oder nur geringfügig verletzt werden.

Und die Tendenz ist eindeutig und unübersehbar: immer mehr autoritäre Regime entfernen sich fast überall auf der Welt von den Grundsätzen der Menschlichkeit — fast mit gleicher Geschwindigkeit, mit der sie das Weltforum zu einer Diskriminierungsmaschinerie für jeweilige Minderheiten degradieren.

Da gibt es das klassische, feudalorientierte autokratische System; es existiert noch immer, obwohl in einer eruptiven Welle nach 1945 gerade solche Regime fast verschwunden sind. Kaiser Haile Selassie repräsentierte länge Zeit diese klassische Variante. Dann ist da das autoritär-ideologische Regime; also die „Zweite Welt“ von Ostberlin und Preßburg bis Wladiwostok und Hanoi. Als überaus erfolgreicher Systemtyp darf die Militärdiktatur angesehen werden. Immer mehr Länder, vor allem in der „Dritten Welt“, werden zu Militärregimen, an deren Spitze sich bald ein „starker Mann“ etabliert, der auf die militärische Behelfsapparatur bauen kann. Die heutigen Militärregime sind nicht eindeutig ideologisch einzuordnen. Es gibt da „linke“ Regime — wie die meisten in Afrika — oder „rechte“, wie viele in Südamerika. Faschistische und kommunistische Elemente gehen eine makabre Gemeinschaft eip. Auf der Strecke bleiben vor allem jene, die gegen die Gewalt und Unfreiheit an sich sind.- seien es linke Poeten oder rechte Geschäftsleute (auch solche braucht die Welt).

Dreißig Jahre nach dem Ende der braunen, faschistischen Diktatur ist die demokratische Pflanze verblüht. Selbst die US-Amerikaner sind über ihr eigenes System skeptisch, das sie vor dreißig Jahren euphorisch aller Welt aufdrängen wollten.

Sieht man diese Entwicklung realistisch, dann gibt es nicht eine historische Tendenz vom Kapitalismus zum Sozialismus — sondern eine solche von der Freiheit zur Unfreiheit. Was sich heute sowohl als sozialistisch wie nationalistisch etir kettiert, ist schlichtweg neo-faschistisch oder neo-stalinistisch. Über quantitative Unterschiede kann man streiten.

. Die durchgehende — fast zwangsweise Tendenz — hat noch eine andere Dimension. Der Kampf der Entwicklungsländer gegen die Industrieländer und der Kampf der Supermächte gegeneinander spitzt sich immer mehr zum kalten Krieg der Antidemokraten gegen die immer weniger werdenden Demokraten in der Welt zu.

Wer Sinn für Geschichte besitzt, muß von der Parallelität der Vorgänge verblüfft sein: diese Zuspitzung und Konfrontation zwischen Demokraten und Antidemokraten hat sich ja innenpolitisch in Italien und Deutschland vor fünfzig Jahren ganz ähnlich abgespielt. Heute erleben wir mit sehr verwandten Schlagwörtern die gleiche Konfrontation im Weltmaßstab. Autoritäre Regime manipulieren das parlamentarische UNO-Forum — ohne irgendetwas vom Parlamentarismus zu“ halten. Und während viele ihre Parlamente als überflüssige „Quatschbuden“ längst aufgelöst haben, spielen sie am East River und vor der Medienöffentlichkeit der Welt brav ein quasi-demokratisches Spielchen mit Resolutionen und Abstimmungen weiter.

Wir sind derzeit Publikum einer geradezu alptraumatischen Entwicklung. So ist es bereits möglich, das öffentliche Bewußtsein auch im freien Europa derartig zu deformieren, daß sich die Demokraten vor den Antidemokraten rechtfertigen müssen, weil sie für Gesetzlichkeit und Menschlichkeit eintreten. Nackter Machtanspruch umgibt sich mit einem ideologischen Mäntelchen; und beschwört dann den „Geist von Helsinki“, wenn es darum geht, wieder ein Stück Freiheit den Menschen im eigenen Land zu stehlen oder in allen Ecken der Welt Konflikte anzuheizen; Rassismus hat längst die ökonomische Struktur zwischen arm und reich überspielt — es geht nicht mehr um Klassen-, sondern um Rasenkampf.

Fatalismus also in diesem weltweiten geschichtlichen Prozeß; Muß man der Demokratie den Totenschein noch zu ihren Lebzeiten ausstellen, weil die Antidemokraten in der Mehrzahl sind?

Das Problem scheint darin zu bestehen, daß gerade die Intellektuellen unter den Demokraten sowohl in' Europa als auch in den USA ein völlig gestörtes Selbstbewußtsein besitzen, das von einem tief sitzenden Komplex „abendländischer“ Verunsicherung herrührt. Wie sonst könnten jene, die den aktuellen Antidemokratismus am eigenen Leib spürten — wie Alexander Soscherii-zyn oder Andrej Sacharow —, so hart mit den westlichen Intellekt tuellen, den „Liberalen“, ins Gericht gehen?

Es wäre grotesk und ein Verrat an jenen Tausenden, die die,Opfer der modernen autokratischen Systeme sind, wenn man hier — wo das möglich ist — die Stimme nicht erhöhe.

Vor fünfzig Jahren haben angesichts der antidemokratischen Flut nur mehr wenige den Mut gehabt, den Anfängen zu wehren. Die meisten konnten es nur noch mit ihrem Wort tun. Heute ist die Situation ähnlich. Es gilt, gerade jetzt nicht zu kapitulieren. Gerade jetzt nicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung