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„Rückständig wie das Zarenreich“

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Sie nennen sich „Bewegung für sozialistische Erneuerung“ und verlangen Reformen, ehe es zu spät wird. Wer sind die Mahner, die ihre politische Identität nicht preisgeben wollen?

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Sie nennen sich „Bewegung für sozialistische Erneuerung“ und verlangen Reformen, ehe es zu spät wird. Wer sind die Mahner, die ihre politische Identität nicht preisgeben wollen?

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Die UdSSR liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung zehn bis 15 Jahre hinter den kapitalistischen Ländern zurück, und der Abstand wächst immer mehr.

Nach der Struktur des Außenhandels ist die Sowjetunion genauso rückständig wie das zaristische Rußland, denn sie exportiert hauptsächlich Rohstoffe in die Länder des kapitalistischen Westens. Fazit: Der Sowjetstaat ist auf dem Wege, ein unterentwickeltes Land zu werden.

Das behauptet keine exilrussische Dissidentengruppe im Westen, sondern ein „Manifest an die Bürger der UdSSR“, das vor kur-

zem die britische Zeitung „Guardian“ veröffentlicht hat. Als Urheber firmiert eine sowjetische Autorengruppe, die angeblich über „spezielle und objektive Informationen“ verfügt, jedoch im „Interesse des Sowjetstaates“ anonym bleiben will.

Sie nennen sich „Bewegung für sozialistische Erneuerung“. Das Memorandum trägt die Handschrift von Polit-Insidern, die sachkundige Analyse der sowjetischen Lage und die Diktion verraten, daß hier Profis am Werk waren.

Das 17-Seiten-Manifest erinnert stark an den Offenen Brief Andrej Sacharows an die Oberste Sowjetführung aus den siebziger Jahren (er wurde deshalb nach Gorki verbannt), auch die Formulierungen weichen nur geringfügig von jenen Sacharows ab.

Es ist bezeichnend, daß der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadij Ge-rassimow, in einer ersten Erklärung keineswegs die Echtheit des Memorandums bestritt, sondern lediglich erklärte, das Dokument sei eine „antisowjetische Provokation“. Doch das Dokument ist in seiner Grundtendenz alles andere als „antisowjetisch“.

Martin Walker vom „Guardian“ behauptet sogar, das Manifest stamme von reformwilligen Funktionären um den KPdSU-Chef Michail Gorbatschow, ja sogar Gorbatschow selbst habe möglicherweise das Dokument gelesen. Allerdings, räumt der britische Journalist ein, könne das Dokument ebenso von einer Funktionärsgruppe stammen, die es darauf abgesehen hat, Gorbatschows Reformkurs zu diskreditieren.

Wie dem auch sei, wahr ist, daß die sowjetische Volkswirtschaft derzeit ein Stadium erreicht hat, in dem sie sich im Rahmen des von der KP beherrschten Leitungssystems nicht mehr erfolgreich weiterentfalten kann.

Das Land, das den erstenSatel-liten ins Weltall schickte, stellt heute nicht einmal einen brauchbaren Lichtschalter her.

Wahr ist auch, daß die „Nomenklatura“, die privilegierte Funktionärsschicht, vor der grauen Wirklichkeit des sowjetischen Alltags einfach die Augen verschließt und sich hinter einer blinden „Nach uns die Sintflut“-Ideologie verschanzt.

Das Sowjetsystem ist ein pyra-midenhaft aufgebautes Machtsystem und funktioniert von oben nach unten. Von oben werden die Weisungen und Instruktionen erteilt, von unten nach oben gehen dann irgendwelche Berichte über die erfüllten und nicht erfüllten Fünfjahrespläne, die mit der Wirklichkeit oft nichts mehr zu tun haben. Die Kontrolle bleibt weitgehend aus, es sei denn, sie wird von oben angeordnet.

Das Wirtschaftsblatt „Soziali-stitscheskaja industrija“ schrieb im Jahre 1982, in zehn Großstädten Rußlands gebe es keinen einfachen Wecker zu kaufen.

Wahr ist schließlich, daß der Mitarbeiter der renommierten Moskauer Kulturzeitschrift „Literaturnaja gazeta“ aus der russischen Halbmillionenstadt Krass-nodar vor kurzem meldete, es gebe keine Rasiercreme, keine

„Die Sowjetunion ist auf dem Wege, ein unterentwickeltes Land zu werden“ Zahnbürsten und keine Herrensocken zu kaufen.

Der Leidensweg des „kleinen Mannes“ im Alltag kennt in Rußland keine Grenzen.

Und das „Manifest an die Bürger der UdSSR“ legt dafür ein Zeugnis ab: „Der Lebensstandard der Sowjetmenschen gehört zu den niedrigsten in der industrali-sierten Welt, die RGW-Länder miteingeschlossen. Ein Arbeiter in den USA verdient im Schnitt monatlich 1000 Rubel, sein sowjetischer Kollege dagegen 185 Rubel. Die Lebensbedingungen der Bauern, insbesondere derjenigen, die außerhalb der Kolchose leben, erinnern an das Leben der russischen Bauern um die Jahrhundertwende.“

„Aus dem Straßenbild der sowjetischen Städte sindlange Warteschlangen nicht mehr wegzudenken.“ Die zunehmende Verarmung des Sowjetbürgers hat auch eine Reihe sozialer Konfliktsituationen zur Folge.

„Trunkenheit und Alkoholismus greifen um sich, Kriminalität und Prostitution sind ebenfalls im Wachsen begriffen. Heute konsumiert man in der UdSSR 10- bis 15mal mehr Wodka als im zaristischen Rußland. Eine besorgniserregende Erscheinung ist der ständig wachsende Alkoholismus unter den Frauen. Die Folge davon ist eine Zunahme von psychischen und physischen Störungen bei den Neugeborenen.“

Die gegenwärtige Krise des wirtschaftlichen Systems sei eng mit der politischen Krise des Sowjetstaates verbunden, heißt es im Manifest dann weiter.

Sie betreffe so „fundamentale Prinzipien des sozialistischen Staates wie die Freiheit der Rede, der Presse und der Versammlung“.

Auf einem anderen Blatt steht freilich, daß die Verfasser keine echte Alternativen bieten, wenn es darum geht, wie eine organisierte Opposition innerhalb des Sowjetsystems funktionieren könnte.

Im Manifest ist zwar unentwegt von der Zulassung der Opposition die Rede, aber in ihrem Programmentwurf sind die Verfasser dann bestenfalls bereit, „unterschiedliche politische Organisationen, die alle das Ziel haben, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen“, zuzulassen.

Also keine Oppositionspartejen, keine öffentliche Zulassung von politisch Andersdenkenden. Und das geht so weiter.

Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wird besonders kraß, wenn die Verfasser für mehr „Freiheit und Selbständigkeit der Betriebe im Rahmen der sowjetischen Verfassung“ plädieren. Wie das im „Rahmen des Sowjetsystems“ funktionieren soll, weiß keiner.

Denn mehr Freiheit für Industriebetriebe oder eine Verselbständigung der Bauern bedeutet zwangsläufig eine zunehmende Einschränkung der politischen Macht der herrschenden KP.

Die Sowjetführer sind sich zwar der Notwendigkeit der Reformen bewußt, sie haben aber gleichzeitig erkannt, daß jede wirtschaftliche Reform gleichzeitig ihre politische Macht untergräbt. Und die eigene Machtposition aufs Spiel zu setzen, dazu war bislang noch kein einziger Kommunist Osteuropas bereit.

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