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AM ANFANG STAND DIE HUNGERREVOLTE

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Der Hunger sprengte vor 75 Jahren in Rußland ein altes System. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ringt Rußland um eine neue Ordnung. Der Weg zur Marktwirtschaft ist voller Steine. Politisch-militärisch ist alles offen. Redaktionelle Gestaltung: Franz Gansrigier

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Der Hunger sprengte vor 75 Jahren in Rußland ein altes System. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ringt Rußland um eine neue Ordnung. Der Weg zur Marktwirtschaft ist voller Steine. Politisch-militärisch ist alles offen. Redaktionelle Gestaltung: Franz Gansrigier

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Hungerhysterie - im Westen mehr als im Osten. Vor 75 Jahren hat es mit einer Hungerrevolte begonnen. Die sogenannte Februarrevolution - Hintergrund: das wirtschaftliche Desaster Rußlands nach zwei Jahren Krieg - brachte mit den Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Petrograd am 23. Februar (8. März) 1917 und vier Tage später mit einem allgemeinen Arbeiter- und Soldatenaufstand das Ende der Zarenherrschaft.

Physischer Hunger hatte revolutionäre Konsequenzen. Vor 75 Jahren. Der geistige Hunger wurde in den 75 Jahren kommunistischer Herrschaft nicht gestillt: Freiheit und Individualität kamen im Vokabular der seit der sogenannten Oktoberrevolution 1917 (25. Oktober beziehungsweise 7. November nach dem neuen Kalender) herrschenden Bolschewiki nur im propagandistischen Sinne vor; wenngleich man zunächst um Freiheit kämpfte.

Heute herrscht Hungerhysterie eher in den westlichen Ländern: Man will Rußland, den Giganten unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, ein neuerliches revolutionäres Schicksal mit einem möglichen Abdriften in linken oder rechten Totalitarismus ersparen. Die „Operation Hoffnung" seit Beginn dieses Jahres, tonnenweise Hilfslieferungen aus der EG, den USA und Japan nach Rußland, sind eher ein Signal als echte Hilfe. Von stolzen Russen nicht gerne gesehen, nicht einmal Moskaus Bürgermeister Gawriil Popow kann dieser Aktion viel abgewinnen - welche ehemalige Großmacht'möchte schon gerne als globaler Bettler dastehen? - wird der Sinn der Aktion von Ökonomen in Frage gestellt. Die großeOsthilfe kann doch nicht in einem Durchfüttern einer nicht einmal so großen Zahl von russischen Bürgern bestehen. Hilfe zur Selbsthilfe kann von diesen karitativen Aktionen kaum ausgehen.

Rußland verläßt sich momentan auf die im Reformprogramm von Wirtschafts- und Finanzminister Jegor Gaidar (35), einem ehemaligen Pra-wda-Abteilungsleiter, vorgesehene Ankurbelung der Produktion durch Preisfreigabe. Nach der von den Russen weggesteckten ersten enormen Belastungswelle vom Herbst vergangenen Jahres sind - wie Agenturen und westliche Wirtschaftsmagazine übereinstimmend melden - die Regale in den Staatsläden übervoll.

Schlangestehen ist man in Rußland ja schon gewöhnt, aber es gibt keine Lebensmittelknappheit, wenngleich das Angebot sehr teuer ist. Das gravierendste Problem stellt gegenwärtig die nicht wirklich freie Preisbildung dar. Denn die staatliche Produktion sowie der Verkauf in staatlichen Geschäften sind nach wie vor subventioniert, brauchen keine Konkurrenz zu fürchten, Wettbewerb gibt es kaum. Preisdrückende Mechanismen haben sich mithin noch nicht entwickelt.

Wie Finanzminister Gaidar und Rußlands stellvertretender Ministerpräsident Gennadij Burbulis vergangene Woche in einem Memorandum an die Abgeordneten des russischen Parlaments (der sogenannte Volkskongreß wird am 6. April zu seiner nächsten Sitzung in Moskau zusammentreten, Wirtschaftsfragen und die neue Verfassung werden Hauptthemen sein) festhielten, wird die Inflationsrate im ersten Quartal 1992 350 Prozent betragen. In den kommenden Quartalen rechnet die russische Regierung mit einem Rückgang der Inflation auf 100 bis 140 Prozent.

Als positiv wurde in der russischen Öffentlichkeit die Ankündigung von Präsident Boris Jelzin aufgenommen, die Mindestlöhne um 200 Rubel anzuheben, auf dem Dienstleistungssektor wurde eine Lohnerhöhung um etwa 50 Prozent ins Auge gefaßt. Das Arbeitslosengeld wird hingegen auf 75 Prozent der bisherigen Höhe herabgesetzt, diese Maßnahme soll einen Anreiz zum Arbeiten bieten. Die Preise - so das Memorandum - dürften im April noch einmal um 50 bis 75 Prozent steigen. Mit ihrem Reformprogramm wollen Gaidar und Burbulin die Weltbank und den internationalen Währungsfonds (IMF) für Rußland günstig stimmen.

Mit höheren Preisen kamen auch die gehorteten Waren in die Staatsläden zurück. Ob mit den derzeitigen wirtschaftlichen Maßnahmen der russischen Regierung auch Produktionssteigerungen zu erwarten sind, kann noch nicht gesagt werden. Von einem Warenhort kann man auch nur eine bestimmte Zeit leben. Privatisierung und Landreform sind jetzt unabdingbare reformerische Schritte. Dabei hapert es aber.

Von der vorhin erwähnten Volkskongreßtagung anfang April wird es abhängen, wie es in Rußland weitergeht. Das Parlament - vor eineinhalb Jahren noch unter Vorherrschaft des Einparteisystems gewählt - besteht zumindest zur Hälfte noch aus Kommunisten. Die Schätzungen sind da sehr unterschiedlich: Der Moskaö-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung" spricht von 40, die Jelzin-Beraterin in Nationalitätenfragen, Galina Starovoyta, jüngst im „Standard" sogar von 80 Prozent Kommunisten.

Jelzins Reformprogramm, das auf seinen Finanzminister Gaidar zurückgeht, kommt in der russischen Presse und bei vielen Abgeordneten sehr schlecht weg. Der 46jährige Par-lamentspräsidentRuslanChasbulatow ist einer der schärfsten Kritiker dieses Vorhabens. Der Tschetschene, dem seine Heimatrepublik das Mandat entziehen will, nennt die Preisliberalisierung der „Bürschchen" - so bezeichnet er Rußlands Regierung - eine „unkontrollierte Preistreiberei". Wenn nicht Jelzin, dann würden die Abgeordneten die Regierung feuern, kündigte Chasbulatow an. Deshalb fordern politische Beobachter rasche Wahlen in Rußland, um einem durch Unzufriedenheit ausgelösten Rechtsoder Linksdrall zuvorzukommen.

Michail Gorbatschow, als Ermöglicher der Einheit Deutschlands vergangene Woche im neuen Deutschland freundschaftlich-familiär begrüßter Staatsmann in Pension, sprach dies auch als die größte Gefahr an, die jetzt Rußland drohe: Reaktionäre Kräfte -die FURCHE (7/1992) berichtete vor kurzem darüber - könnten die Unzufriedenheit der Bevölkerung provokatorisch ausnutzen, was bis zum

Bürgerkrieg gehen könnte. Deshalb plädierte jener Politiker, der den Sozialismus reformieren wollte, dabei aber ungewollt Kräfte zur echten Umgestaltung der Sowjetunion und Europas freisetzte, für eine intensive Zusammenarbeit mit allen europäischen Staaten.

Die Rote Armee zieht sich zwar aus dem Baltikum und den Krisenregionen des Kaukasus zurück, die Versuchung der Geschäftemacherei mit vc rhandenem militärtechnologischen Potential ist groß (siehe Beitrag Seite 11), desgleichen können auch sogenannte lokale Konflikte - Stichwörter: Georgien, Armenien, Aserbeid-schan - Europa nicht in Sorglosigkeit entlassen. Neben der sicherheitspolitischen Kooperation Westeuropas mit Rußland als Ordnungsmacht in Osteuropa muß der wirtschaftlichen Zusammenarbeit größte Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Selbsternannte Messiasse scharren schon in ihren Startlöchem. Sie verheißen nichts Gutes für den Riesen Rußland. Nicht gestillter geistiger Hunger und Orientierungslosigkeit in einer im wesentlichen noch nach alten Vorstellungen strukturierten Po-lit-Landschaft - von einer Parteiendemokratie ist Rußland noch weit entfernt - könnten den starken Männern Auftrieb geben.

Der 45jährige Wladimir Wolfo-witsch Schirinowski, der Jelzin am liebsten ins Gefängnis stecken möchte, der Rußland nicht reif für die Demokratie hält, ist einer von ihnen. Seine Agitation gibt Gorbatschows Appell in Deutschland „Helft Jelzin!", um damit Rußland zu retten, höchste Aktualität.

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