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Rasche Hilfe für die Russen

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Das Endspiel um die Macht in Rußland ist in vollem Gange. Jelzin steht in einer Abwehrschlacht gegen diverse Interessengruppen, die sich aus ehemaligen hohen Funktionären der nunmehr verbotenen KPdSU, aber auch aus den verschiedenen Funktionsbereichen der Nomenklatura bildeten. Was kann Österreich tun?

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Das Endspiel um die Macht in Rußland ist in vollem Gange. Jelzin steht in einer Abwehrschlacht gegen diverse Interessengruppen, die sich aus ehemaligen hohen Funktionären der nunmehr verbotenen KPdSU, aber auch aus den verschiedenen Funktionsbereichen der Nomenklatura bildeten. Was kann Österreich tun?

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Wer erhält die Exporterlaubnis für...? Wer kann die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Betriebe und das Bankwesen an sich binden? Wer administriert die Vergabe von Wohnungen oder wer verfügt über die Banknotenpresse? In allen Positionen wird in Rußland über den Erhalt und die Absicherung der Macht gerungen, der Druck zur Existenzsicherung ist enorm und macht Reaktionen verständlich, die sonst nur schwer erklärbar sind. Kein Beamter, Wissenschaftler oder Politiker kann sich diesem Druck entziehen. Die Zusammenschlüsse zu Interessengruppen bilden die Basis einer neuen Feudalherrschaft. Sie führen aber auch durch das Fehlen der staatsumfassenden Rechtssicherheit zu Metastasen, bekannt als Filz oder Mafia.

Der Umbau ist mißglückt. Die Wirtschaftsindikatoren - wie ungenau sie auch immer sein mögen - sprechen eine eindeutige Sprache und werden durch die Realität eher übertroffen. Das Bruttonationalprodukt sinkt und sinkt. 1991: minus 22 Prozent, 1992: minus 19 Prozent und für 1993 erwartet man nichts Besseres. Man kann davon ausgehen, daß das Realeinkommen 1992 um mindestens 20 Prozent zurückgegangen ist, die Inflation wurde zur Hyperinflation: 1992 erreichte sie 2.500 Prozent und wird 1993 zumindest auf 3.000 Prozent anwachsen. Das Budgetdefizit erreichte 1992 bereits rund 20 Prozent des BIPs.

Das Volk, die Masse hat verloren. Die Währung verfällt, der Wechselkurs des Rubel sackte Mitte März auf 720 Rubel/US-Dollar ab. Zu diesem Wechselkurs verdient ein Arbeiter heute rund 65 Cents pro Arbeitstag.

Zu der Metastasenbildung in der russischen Wirtschaft und Gesellschaft trug das von Jelzin durchgesetzte Verbot der KPdSU entscheidend bei. Die Kommunistische Partei, die im übrigen kurz vor ihrer Spaltung stand, verlor durch den Bann lediglich ihre Zentralgewalt, während die Macht der Provinznomenklatura stark anwuchs. Gleichzeitig hat Jelzin keine wirkliche Notwendigkeit gesehen, eine Partei beziehungsweise demokratische Strukturen aufzubauen, vielmehr trachtete er lediglich danach, mit den herkömmlichen Mitteln seine Macht aufrecht zu erhalten: er schlüpfte einfach in die Schuhe der alten Führer; das Empire war ja noch vorhanden. Diese Vorgangsweise Jelzins nicht zu kritisieren, sondern seiner Machtentfaltung eher positiv gegenüberzustehen, ist einer der bisher entscheidendsten Fehler des Westens. Heute die Demokratie einzufordern, ist etwas verspätet und eine Frage der Adressaten.

Kann vor diesem Hintergrund der Westen, kann Österreich die Entwicklung positiv beeinflussen, können wir helfen? Dramatischer: stehen wir am Vorabend einer atomaren Auseinandersetzung?

Die Frage ist auch, wie kann man in dieses ,.Endspiel" eingreifen, ohne die Nationalisten gegen sich aufzubringen? Wie vermeidet man den Eindruck, nur ein Marionettenregime an der Macht halten zu wollen?

Vorweg eines, der Rest hat es versäumt, die Spielregeln mitzubestimmen. Die möglichen neuen Diktatoren Rußlands gehen in Belgrad heute ein und aus. Eine Lehre, die sie aus den Ereignissen auf dem Balkan ziehen müssen: der Putsch gegen Gorbatschow wäre nicht gescheitert, wenn im entscheidenden Augenblick mit Brachialgewalt vorgegangen worden wäre. Damit ist die bisherige Ethik, die zu den unblutigen Veränderungen in Ostdeutschland oder zur „samtenen" Revolution in der CSFR geführt hat, zumindest hinterfragbar, da die, die Waffengewalt anwenden, nicht mehr stigmatisiert, geächtet werden.

Sich aus dieser Situation lediglich mit einem größeren Geldbetrag oder mit einer Art Marshall-Plan-Hilfe aus der Affäre zu ziehen, ist schwierig. Es gibt einige Schätzungen über die Höhe der notwendigen Beträge zur Restrukturierung des Landes. Neben der Regelung der Auslandsverschuldung in der Höhe von rund 82 Milliarden US-Dollar, sind zur Sicherung der Atomanlagen und der Atomwaffen 15 Milliarden US-Dollar, zur Sanierung der Energieindustrie rund 30 Milliarden US-Dollar notwendig. Hingegen würde ein soziales Sicherheitsnetz bei einer angenommenen Arbeitslosigkeit von 20 Prozent gegenwärtig nur sechs Milliarden bedürfen. Dieses Geld könnte zwar von den Russen aufgebracht werden, allein die Zusagen des IWF würden einen Großteil decken.

Von ausschlaggebender Bedeutung sind jedoch die Fragen, wie dieses Geld in .die russische Wirtschaft fließen könnte, so daß es einerseits dem Adressaten zukommt und die gewünschte Wirkung hat und andererseits nicht den Eindruck erweckt, mit dieser Hilfe möchte der kapitalistische Westen nur eine ihm genehme Marionettenregierung stützen. Dieser Eindruck wäre weiteres Wasser auf die Mühlen der extremen Nationalisten und ein Schritt näher zu einem Bürgerkrieg.

Eine Unterstützung muß somit deutlich machen, daß das russische Volk der Adressat ist und nicht eine Regierung beziehungsweise deren Vertreter. Ein Ansatz wäre, die Kirche Rußlands mit ihrer Fähigkeit zu stärken, caritative Tätigkeit verstärkt zu übernehmen. Dies wäre ein erster Schritt, die Not zu lindern und so einen Teil des revolutionären Potentials zu besänftigen.

Doch die auch für den Westen größte Gefahr geht von den bewaffneten Einheiten der Armee und des KGBs aus. Diese bewaffneten Einheiten werden notfalls mit Gewalt ihr physisches Überleben sichern. Sie werden entweder selbst die Macht übernehmen oder für jene eintreten, die ihre Existenz garantieren. Von ausschlaggebender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß das Militär ein Block bleibt. Letzte Äußerungen führender Generäle weisen jedoch eher auf eine Spaltung hin, eine nicht unverständliche Haltung im Hinblick auf die dramatischen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Einbußen, die das Militär im Zuge der Reformen hinnehmen mußte.

Hier ist dringendste Abhilfe geboten. Sozialpläne für Offiziere müßten angeboten, Wohnungen rasch gebaut werden und die Versorgung mit wesentlichen Gütern des Alltags gesichert werden. Diese zwei Institutionen müßten die Primär-Zielgruppen westlicher Unterstützung bilden. Erst danach oder teilweise parallel kann eine weitere „Demokratisierung" und Umgestaltung der Wirtschaft friedlich vor sich gehen. Hingegen sollte der Westen nicht Partei ergreifen, und dies unter der doch fadenscheinigen Begründung, der eine sei mehr „Demokrat" als der andere. Bis dato hat nur die westliche Presse vom „Demokraten Jelzins" gesprochen, seine Taten zeugen nicht davon, wie auch seine Opponenten nicht generell und schlechthin als Ewiggestrige abgestempelt werden dürfen. Unter der gegenwärtigen Situation leiden nahezu alle, und doch muß das russische Volk seinen Weg selbst finden und leben, wir können uns nur bemühen, dazu beizutragen, daß dieser Weg friedlich gefunden wird und daß er, wenn möglich, einmal in einem demokratischen System mündet.

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