6556025-1948_22_06.jpg
Digital In Arbeit

England zwischen den Zeiten

Werbung
Werbung
Werbung

Westminster, das Herzstück des alten imperialen England, hat das Gesicht der Vorkriegszeit noch nicht wieder erhalten. Ein Bombentreffer richtete Zerstörungen in dem ehrwürdigen Hause des Parlaments an und die neuen weißen Balken des Dachstuhles stechen seltsam heraus aus der Umgebung der gotischen Westminsterabtei und des hochragenden Big-Ben. Diese Vermischung von Altem und Neuem ist wie ein Symbol für das England von heute. Das Land steht augenblicklich in einer Umschulung, die viel verlangt, was dem alten englischen Geist zuwider ist. Die durch Jahrhunderte eingenommene Stellung des Imperiums ist durchbrochen, andere Gesetze der Politik sind ihm durch äußere Ereignisse und begangene Fehler aufgenötigt. Die durch die ersten Nachkriegswahlen zur Regierung berufene Labour-Party hatte zwar ein schon lange Zeit vorbereitetes Marschziel und tüchtige Parteipolitiker, aber keinen überragenden Führer. Es waren Männer, die auf dem langen Wege der Gewerkschaftslaufbahn bis zur höchsten Staatsspitze gelangt und dabei Gewerkschafter geblieben waren. Wieder anders ist es bei den Konservativen, die in Churchill wohl die große Führerpersönlichkeit besitzen und über bedeutende Köpfe verfügen, jedoch über kein die Masse ansprechendes großes Programm. Dem konnten auch verschiedene Versuche, wie die Wirtschaftscharta der Partei, nicht abhelfen. Besorgt fragt sich mancher ihrer Anhänger, ob eine konservative Regierung wohl sehr verschieden hätte handeln können von den Maßnahmen, die die Arbeiterpartei getroffen hat. Und doch gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden großen Parteien. Die zur Regierung berufenen Sozialisten sahen sich gezwungen, den in einen starren Rahmen gepreßten Leitsätzen des dialektischen Sozialismus zu folgen. Jedes Abweichen bedeutete einen scharfen Widerspruch des linken Flügels der Fraktion, der in letzter Zeit mit seinem Sympathietelegramm an die mit den Kommunisten verbundene Partei Nennis in Italien sich der europäischen Öffentlichkeit in Erinnerung gebracht hat. Die Parteileitung sah sich sogar gezwungen, das Parlamentsmitglied Platt-Mills als Urheber des Telegramms aus der Partei auszuschließen und zwanzig andere Abgeordnete streng zu verwarnen. Um wie viel leichter hat es die Opposition. Ihre Solidarität mit der obersten Führung wird nie durchbrochen. Die Auseinandersetzungen innerhalb der regierenden Mehrheit macht die Wählerschaft nur am Rande mit. Aber sie spürt, daß die Wege der Labour- Party wenigstens vorläufig in Sackgassen geendet haben. Aber dieses Mißvergnügen bedeutet noch kein Bekenntnis zur Konservativen Partei. Die Entscheidung beim nächsten Wahlgang wird für den einzelnen nicht leicht sein. Die Wahlen sind aber noch weit und Voraussagen nicht am Platz.

In der Struktur des englischen Lebens machen sich .große Veränderungen bemerkbar. Man kann sie schon verspüren, wenn man in den Pubs und Road- houses, diesen kleinen pittoresken Gasthöfen mit altenglischen Namen und verschnörkelten Innungszeichen den Gesprächen zuhört. Ging früher die Rede um Sporthelden oder Pferderennen, so diskutiert man heute über die Lohn- und Preisfragen, über die Verstaatlichung und über die außenpolitischen Schwierigkeiten und Gefährdungen. Die schweren Erlebnisse des Volkes haben ihre breiten Spuren zurückgelassen. Der hart erkämpfte Sieg kostete die Aufgabe der Weltmachtstellung. Die insulare Sicherheit ist dem ängstlichen Bewußtsein der Zugehörigkeit zu Europa gewichen. Der einstmalige Bankier der Erde ist heute selbst zum Anleihenehmer geworden. Das alles hat dem Engländer zwei Ausrichtungen gegeben: man sagt, er sei „openly-minded” und „concinental-minded” geworden, er habe heute starkes Interesse au allem, was mit dem öffentlichen Leben zusammenhängt und mehr als je für all das, was auch jenseits des Kanals geschieht. Dennoch ist immer wieder wahrzunehmen, wie fest auch der einfache Mann aus dem Volke in der Tradition steht. Der Fremde wird nirgends Hoffnungslosigkeit trotz aller dem Volke auferlegten Opfer oder ein Sichgehenlassen finden. Die Menschen fühlen sich sicher, daß die Krise überwunden wer- d e’n kann. Dieser zähe Wille, den tiefen Fall zu überstehen, zeigt sich auch darin, daß man keine der Sitten aus der guten alten Zeit aufgegeben hat. Immer noch sind die Clubs der Mittelpunkt des sozialen Lebens, immer noch ist die Höflichkeit auch des Einfachsten selbstverständlich. Und trotz größerer Armut verzichtet weder der Minister noch der Portier auf die traditionellen Redewendungen über das Wetter.

Nur durch eins fühlt sich der Engländer wirklich beunruhigt. Eine Reihe von Gesetzen und Maßnahmen, die die jetzige Regierung veranlaßt hat, bedeuten eine beträchtliche Einschränkung seiner persönlichen Bewegungsfreiheit. Im Überschwang der Sozialisierung kamen einige Verordnungen nahe an Beispiele aus autoritären und staatskapitalistischen Staaten heran. So gibt zum Beispiel das „Arbeitsplatzgesetz” dem Staate die Möglichkeit, jeden einzelnen Bürger von seinem gewählten Arbeitsplatz auf einen anderen zu versetzen. Das Sozialministerium macht für diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit geltend, zu dieser Maßnahme werde nur im Notfall gegriffen werden. Immerhin, das Gesetz ist da und bedeutet einen Bruch alles Herkömmlichen für England. Die Wirtschaft hnd Industrie werden \von einem immer engmaschigeren Netz staatlicher Beaufsichtigung umschnürt. Diese starke Kontrolle des Staates brachte aber ein für den Wiederaufbau gefährliches Moment zum Vorschein. Je weiter das Überwachungswesen des Staates fortschreitet, desto geringer wird die Arbeitsfreude. Dem Unternehmer wird die befohlene Produktionssteigerung durch ein unüberwindliches Bewirtschaftungssystem und durch eine jeden Gewinn aufzehrende Besteuerung verleidet. Ein endloser bürokratischer Weg macht es ihm schwer, die von ihm gefotv derten Exportquoten zu erfüllen. Das drückt auf seine Unternehmungslust und Investitionsfreude. Unter den Arbeitnehmern wirken andere psychologische Momente. Der Arbeiter und der kleine Angestellte haben diese Regierung in den Sattel gehoben und dafür wollen sie auch die Früchte einheimsen. „We elected them. They are our boys”, „Wir haben sie gewählt! Sie sind unsere Kameraden!”1 Der englische Arbeiter will dafür bedankt sein, daß er seiner Partei zum Siege verholfen hat. Nur sehr widerwillig gewöhnt er sich daran, daß das ihm versprochene goldene Zeitalter vorläufig noch nicht durch die 40-Stunden- Woche und ständige Lohnforderungen erreicht werden kann, sondern immer noch harte Arbeit nötig ist und — um mit Churchill zu sprechen — die Zukunft nur „durch Schweiß und Tränen” erkämpft werden kann. Diese Einstellung ist auch der Grund, warum alle Verstaatlichungsbestrebungen bis jetzt ungünstig gewirkt haben. Jeder Konservative, Liberale oder Labour-Anhän- ger begrüßte die Nationalisierung der Kohlengruben, Die Maschinen waren sehlecht, die Förderung rückständig gewesen. Die Folge davon war aber im Zeichen der Verstaatlichung kein größerer Ausstoß an Kohle, sondern erhöhte Forderungen der Mineure. Als die Regierung ihnen begreiflich machen wollte, daß Kohle das Grundelement der wirtschaftlichen Gesundung Englands sei, begannen sie jetzt genau wie unter den privaten Eigentümern zu streiken. Die Verstaatlichung des gesamten Transportwesens begegnete schon starken Zweifeln. Die geplante Über’tiahme der Stahlindustrie durch den Staat wird aber allgemein als Katastrophenpolitik bezeichnet und soll nur der Beruhigung der „Rebellen” des linkesten Flügels dienen. Gerade dieser Zweig der Schwerindustrie war unter privater Führung zu vollausgelasteten Musterbetrieben gemacht worden und hatte sich vollkommen erholt.

Nicht nur die Industrie muß die Rechnung bezahlen. Schwer betroffen durch die Maßnahmen ist der englische Mittelstand. Die Belastung des Staates mit immer neuen Staatsbetrieben, die Einstellung unzähliger zusätzlicher Staatsbeamter zwingen zu immer stärkerem Anziehen der Steuerschraube. Gleichzeitig versucht das Budget des englischen Finanzministen Sir Stafford Crips durch neue hohe Besteuerungen von Verbrauchsgütem, die zu Luxusgütern deklariert werden, die notwendigen Summen aufzubringen. Schon längst sind die großen Privathäuser des Adels, die die Triumphstraßen des englischen Empires entlang Picadilly und Pall-Mall7 einsäumten, von ihren Besitzern den nationalen Fonds „zur Verfügung” gestellt worden. Auch das Haus der Herzoge von Wellington fiel der Verarmung zum Opfer, die aber nicht nur an den höchsten Stufen der sozialen Leiter sich vollzieht. Alle jene Offiziere und Staatsbeamten, kleinen Industriellen und Kaufleutte, die früher den sozialen Unterbau für die über die Meere reichende Politik Englands darstellten, sind schwer getroffen. Das Gehaltsvöhimen hat sich zugunsten des manuellen Arbeiters verschoben.

Frühlingssonne überzieht die grauen Häuserzeilen Londons mit ihrem goldenen Glanz. Auf den Ruinenfeldern der City blühen Blumen. Im satten Grün des Hyde- Park, inmitten der Stadt, auf seinen großen. Rasenflächen weiden Schafe. Unerschütterlich dem Wechsel der Zeiten trotzend, steht weiterhin Nelson auf der hohen Säule am Trafalgar Square. Auch heute noch Personifikation und Symbol dieses zähen, auch in schweren Rückschlägen ungebeugt gebliebenen Volkes. In den großen Eigenschaften dieses Volkes liegt auch heute noch unbesiegbare Kraft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung