7223907-1993_39_16.jpg
Digital In Arbeit

Ein Unbequemer allein rettet noch keinen Staat

19451960198020002020

So, wie bisher, konnte es in Rußland nicht weitergehen. Boris Jelzin, der Unbequeme, wie er sich selbst sieht, hat zugeschlagen. Russische Bürger sind nicht sonderlich empört.

19451960198020002020

So, wie bisher, konnte es in Rußland nicht weitergehen. Boris Jelzin, der Unbequeme, wie er sich selbst sieht, hat zugeschlagen. Russische Bürger sind nicht sonderlich empört.

Werbung
Werbung
Werbung

Agitation und Protest halten sich in Rußland bis jetzt in Grenzen. Denn die tausend Jelzin-Gegner, die sich aus mit Steinen gefüllten Schläuchen vor westlichen Kameras Schlagstöcke basteln, bringen den Präsidenten nicht in Gefahr; und umgekehrt sind auch die zehntausend Pro-Boris-Demonstranten keine wirkliche Unterstützung für den „Retter der Demokratie" von 1991.

Für das wirtschaftlich darniederliegende Land, schon enerviert wegen der Auseinandersetzung über die politische Macht in Rußland -Ruslan Chasbulatow und ein Parlament, in dem 80 Prozent Jelzin-Gegner debattieren, auf der einen und eine in den Konsequenzen notwendiger, schmerzhafter Wirtschaftsschritte eher erfolglose Präsidenten- und Regierungsmannschaft auf der anderen Seite —, ist die Frage, wer regiert, schon längst uninteressant geworden.

Witalij Tretjakow, Chefredakteur der russischen „Unabhängigen Zeitung", hat jüngst konstatiert: „Es ist schon ein gewisser Algorithmus des politischen, wirtschaftlichen

und bürgerlichen Lebens vorgegeben, der nicht davon abhängt, wer die Regierung im Kreml leiten oder nicht leiten wird."

Die in den letzten Jahren - auch schon in den letzten Jahren der Gorbatschow-Ära - sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft in Rußland, die nicht mehr Angst vor dem repressiven Apparat haben mußte, ist für viele politische Beobachter Rußlands der eigentliche Garant, daß es eine Rückkehr in die Vergangenheit nicht mehr geben wird.

Und in dieser bürgerlichen Gesellschaft konnte sich schon das Institut der unabhängigen Gerichtsbarkeit (bis hin zum Verfassungsgericht) einigermaßen ent-

wickeln, desgleichen der Druck des Parlaments auf die Regierung - bisher meist unrühmlich.

Politisch wird in Rußland solange keine Ruhe einkehren, solange nicht Parlamentswahlen nach einem neuen System - abseits der Entsendung von Kandidaten durch Sowjets — durchgeführt worden sind. Jelzin selbst hat es verabsäumt, seiner Bewegung, seinem Programm eine politische Organisation in Rußland zu schaffen. Wie Gorbatschow gesamtsowjetisch dachte, so denkt Jelzin heute gesamtrussisch - ohne Rücksicht auf politische Vielfalt. Da trifft er sich durchaus mit den Reformgegnern. Eine gewisse Gefahr liegt darin, daß eine altkommunistische Bewe-

gung mit sozialdemokratischen Tendenzen eine Integrationsfigur wie Ruzkoj zur Stärkung der eigenen Schlagkraft erfolgreich einsetzt.

Nachdem sich Jelzin nun einmal für Parlaments- und auch Präsidentenwahlen entschieden hat (beide gleichzeitig kommen für Jelzin nicht in Frage, eine Sistierung der Parlamentsentmachtung bis zu den Wahlen, die sogenannte Null-Lö-sung, ebenso nicht), kommt es auf die 20 autonomen Republiken und 68 Regionen und ihre politischen Vertreter an, diese auch durchzuführen. Die Zentrale ist dazu allein nicht fähig. Politische Beobachter, wie der junge Ökonom Grigorij Jawlin-skij, der mit Ruzkoj über eine politische Lösung des Konflikts verhandelte, meinen, daß das neue Parlament für den Präsidenten unbequemer wäre als das alte. Die vorgesehene Republikenkammer wird sich von einem starken Präsidenten wohl nicht so leicht manipulieren lassen.

Wer bewegt Rußland jetzt in Richtung Demokratie? Daß es ein einziger Mann - Boris Jelzin -nicht schaffen würde, war immer klar. Daß der Präsident nun allein zeigen muß, was er kann, verheißt nichts Gutes. Dem Tausendsassa Jelzin mangelt es an Kompromißfähigkeit, seinen Gegnern an Einsicht in die Notwendigkeit, die Privilegien der nur in der Theorie

gleich(selig)machenden Herrschaft es Proletariats aufzugeben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung