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Niemand wurde ins Out geschickt
Die Entscheidung, wie das Rußland-Referendum auszugehen hat, hat eigentlich das Moskauer Verfassungsgericht getroffen. Für die ersten beiden Fragen - Jelzin Ja oder Nein, Reformpolitik weiter so oder nicht - reichte, nach anfänglichem Widerstand des Volkskongresses, die Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen; für die Fragen nach vorgezogenen Neuwahlen des Präsidenten und des Volkskongresses mußte die Mehrheit der Wahlberechtigten erreicht werden -ein Ding der Unmöglichkeit bei etwas mehr als 60 Prozent Wahlbeteiligung.
Wofür haben „die Russen" am Sonntag mit ihrer Stimme demonstriert? Sicher einmal grundsätzlich für die WeiterfShrung der Umgestaltung des Landes. Aber so nebulos wie Jelzins politische und wirtschaftliche Vorstellungen sind die Erwartungen der Russen nicht. Der Stimmbürger will zunächst einmal ein besseres Leben, spürbare Erfolge dessen, was Reform genannt wird. Das Ergebnis kann also durchaus auch im Sinne einer gewünschten gebremsten Reformhaltung ausgelegt werden.
Hat also Jelzin, die Demokratie, die Reformbewegung in Rußland gewonnen? Wer nur auf das Referendum setzte, ist jetzt kaum schlauer. Wer glaubte, die Russen könnten mit einem Federstrich etwas völlig Neues herbeizaubern, ist ein Illusionist. Ernüchternd muß man festhalten, daß der Stimmbürger eigentlich gemeint hat, man sollte so wie bisher weitermachen. Jelzin ist zwar bestätigt, der Kongreß aber nicht ins Out geschickt worden.
Rußland muß den demokratischen Umgang auf der politischen Ebene lernen, von heute auf morgen kann man die Vertreter der Nomenklatura nicht loswerden; diese Erfahrung haben auch die anderen osteuropäischen Reformstaaten gemacht, wenngleich viele schon etwas fortgeschrittenere Demokraten zu sein scheinen. Und wirtschaftlich läßt sich ein neues System, lassen sich neue Strukturen erst recht nicht mittels Gesetzen herbeidekretieren.
Die Polit-Szene in Moskau spiegelt diese Lage wider. Wenn es zu keinem revolutionären Umsturz kommt - und der ist von unten her momentan eher unwahrscheinlich -wird sich das Gerangel zwischen Präsidenten und Volkskongreß mindestens bis 1995, dem Jahr der Parlamentswahlen, fortsetzen. Aber vielleicht begreifen die Antipoden, daß sie sich ergänzen müssen?
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