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Wer bietet Garantie vor Erweiterungsgelüsten?

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Einer der besten Kenner innerrussischer Verhältnisse analysiert exklusiv für die FURCHE die Lage Rußlands.

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In den letzten Monaten wurden die Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen getrübt. Was sind die Ursachen und inwieweit ist diese Verschlechterung in der politischen Ost-West-Atmosphäre ernstzunehmen? Könnte sie vielleicht gefährlich werden? Gefährlich ist sie nicht: es kommt zu keiner militärischen Konfrontation zwischen Rußland und dem Westen. Aber die Eintrübung der Atmosphäre soll man ernst nehmen.

In Rußland finden in absehbarer Zeit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Dieser in alten demokratischen Ländern normale Routineprozeß ist in Rußland nach sieben Jahrzehnten der totalitären kommunistischen Herrschaft etwas Ungewöhnliches und dementsprechend Schwieriges und Nervöses. In der Tat: Es handelt sich darum, ob diese normale demokratische Methode in ruhigem Gang geht, wie es in den Ländern des Westens geschieht, oder in der Atmosphäre äußerster Konfrontation verschiedener politischer Kräfte, von denen ein Teil die Rückkehr zu totalitären Methoden wünscht. In diesem Sinne sind besonders aktiv die kommunistische Partei mit ihren Verbündeten und die Schirinowski-Partei. Die kommunistische Ideologie und Politik sind de| Welt gut bekannt. Die Partei von Schirinowski nennt sich zwar die „liberaldemokratische Partei”, aber sie ist aggressiv nationalistisch.

Das Merkwürdige dieser Lage besteht darin, daß die demokratischen Parteien nicht gemeinsam auftreten. Dadurch entsteht die Möglichkeit, daß die Parteien, deren Ziel die demokratische Entwicklung Rußlands ist, insgesamt keine garantierte Mehrheit bei den Wahlen haben werden.

Das Problem der Präsidentenwahl besteht in folgendem: Der jetzige Präsident Boris Jelzin, der sich 1991 als konsequenter und mutiger Demokrat und Antitotalitarist gezeigt hat, leidet inzwischen unter Gesundheitsproblemen, sein Image des Freiheitskämpfers wurde getrübt. Warum?

Das russische Volk erwartete, daß nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur das Land mit aktiver Unterstützung der westlichen Demokratien sehr bald aufblühen und das Lebensniveau des Westens erreichen würde. Die Realität war anders. Das Lebensniveau des Gros der Bevölkerung stagnierte und fiel oft tiefer als es unter der Herrschaft der Nomenklatura war. Natürlich gibt es bedeutend mehr Freiheit als vorher unter dem liberalen Kommunisten Gorbatschow, geschweige denn unter seinen totalitären Vorgängern, diesen Erben Stalins. Aber man gewöhnt sich schnell an Freiheit und man beginnt sie als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Dabei wirkt die miserable Wirtschaftslage besonders enttäuschend; die Leute hielten das Erreichen eines amerikanisch-westeuropäischen Lebensniveaus für garantiert. Diese Enttäuschung stürzte viele Leute in die Nostalgie nach der „guten alten Zeit” der kommunistischen Diktatur.

Doch entstanden nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten in Rußland, sondern ernste politische Probleme. Die russische Politik in Tschetschenien erinnert stark an die Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts. Warum handelt die russische Führung in Tschetschenien sehr im Stil des klassischen Kolonialismus? Statt der Propagandakampagne gegen Dudajew und seine Anhänger sollte man ein Volksreferendum unter internationaler Kontrolle abhalten: das Ergebnis würde zeigen, ob die Tschetschenen im russischen Reich bleiben wollen oder den Status eines kleinen unabhängigen Landes vorziehen. Aber über ein solches Referendum hat man bisher in Moskau kein Sterbenswörtchen gesagt.

Die russische Regierung unterstützt demonstrativ die Serben in ihrem Konflikt mit den Kroaten und Moslems in Bosnien. Das ist eine bedenkliche Politik: bekanntlich begann der Erste Weltkrieg mit Ereignissen in Serbien. Dabei darf man die panslawistischen Gefühle und Rußlandliebe der Serben nicht überschätzen. Das Tito-Jugoslawien distanzierte sich in den fünfziger Jahren von Rußland und es kam zu einem ideologischen Propagandakrieg zwischen Moskau und Belgrad.

Aktuell in der heutigen russischen Politik ist das Problem des sogenannten „Nahen Auslandes”, als das auch die kleinen baltischen Länder - Litauen, Lettland und Estland - gelten. Bekanntlich wurden sie aufgrund des Stalin-Hitler-Paktes von der Sowjetunion annektiert. Jetzt sind diese drei Republiken wieder unabhängig und souverän. Aber Moskau betrachtet sie ohne jeden Grund als die Einflußsphäre Rußlands. Welche Garantie gibt es für die schon einmal von Moskau annektierten baltischen Länder? Wie die ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten sehen diese Länder ihre Sicherheit nur als NATO-Mitglieder garantiert. Moskaus lautstarke Proteste gegen „die Osterweiterung der NATO” empfinden diese Länder als Bestätigung der Gefahr. Und diese Gefahr steigert den Wunsch der schon einmal annektierten beziehungsweise besetzten Länder nach einer Garantie gegen die Wiederholung nachbarlicher Erweiterungsgelüste.

Hoffen wir, daß die demokratische Führung Rußlands die Lage richtig einschätzt und sich an die mißlungenen Versuche, Finnland und Afghanistan zu annektieren, erinnert.

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