Zu den ungefragten Axiomen westlicher Außenpolitik gehört es, daß man auf Rußland Rücksicht nehmen muß. Obwohl es keine Supermacht mehr ist, wird Rußland der Status eines global player zuerkannt. "Die Stabilisierung Rußlands ist eine Frage des Weltfriedens", meinte kürzlich ein politischer Beobachter.
Begründet wird die besondere Behandlung zunächst mit der schieren Größe des Landes. Im Westen grenzt es an ein halbes Dutzend europäischer Staaten, im Osten an China, im Süden an die unruhige turkstämmige Welt Zentralasiens. Schon dem Zarenreich wurde eine ständige Expansionslust in diese Weltgegend und ein Drang zu den "warmen Meeren" unterstellt.
Eine weitere Begründung lautet: Rußland verfüge über einen Großteil des von der UdSSR geerbten Atomarsenals, dessen Gefahr heute weniger in der Möglichkeit eines gezielten Einsatzes besteht als vielmehr darin, es könnte außer Kontrolle geraten, wenn das Land immer chaotischer wird.
Weitere Motive liegen in einer Art historischer Weltschau: Rußland, dem "Dritten Rom" wird zugestanden, als Zentrum der slawischen Orthodoxie eine der Säulen Europas zu sein.
Als Folge dieser Einschätzung wird Rußland ein Mitbestimmungsrecht in allen europäischen Fragen eingeräumt. Das äußert sich etwa in der Behandlung der baltischen Staaten, die man unausgesprochen der russischen Einflußsphäre zuordnet, entsprechend der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelten Theorie des "benachbarten Auslands".
Rußland bekam schließlich auch ein Mitspracherecht bei der NATO- Osterweiterung.
Zur vermeintlichen innenpolitischen Stabilisierung Rußlands ist fast jede finanzielle Leistung des Westens gerechtfertigt, obwohl es keinerlei Anzeichen für jene Reformwilligkeit und -fähigkeit gibt, die als Bedingung für die Milliarden-Dollar-Spritzen ausgegeben wird. Angeblich wird dadurch Jelzin gegen die Radikalen von ganz links bis rechts gestützt.
Es gibt bisher aber keine Anzeichen dafür, daß diese Politik die von ihr erhofften und die ihr zugeschriebenen Wirkungen wirklich entfaltet. Im Gegenteil spekulieren die russischen Eliten mit der westlichen Angst vor der Unberechenbarkeit des Kolosses Rußland und verfolgen dort, wo ihre konstruktive Haltung gebraucht würde, wie am Balkan, ihre eigenen, von historischen Ressentiments gespeisten Interessen.
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