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Annäherung

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In den letzten Wochen sind über die Gräben hinweg, die sich bisher in den politischen Gefilden Europas immer mehr 2 vertiefen drohten, drei Kundgebungen gewechselt worden, die noch keine sichtbare Änderung gebracht haben, aber sie erleichtern können, da sie sozusagen eine Aussprache von Pol zu Pol bedeuteten. Das erste Wort hatte der große Führer der englischen Konservativen, Wmston Churchill, ihm trat zur Seite mit einer Ree vor den Wählern zu Watford sein Par'ifreund, der gewesene Außenminister Eden und auf dem Fuße folgte eine schriftliche Äußerung Stalins an den Korrespondenten der „Sunday Times“, also in erster Linie an die angelsächsische Öffentlichkeit gerichtet. Übereinstimmend betonten diese Kundgebungen die gegebene Möglichkeit und den Willen einer freundschaftlichen und dauernden Zusammenarbeit zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjetunion, markiert waren die Reden der beiden englischen Sprecher durch die Befürwortung eines besonderen Übereinkommens zwischen den Nationen Westeuropas, das aber durch die Bereitschaft begleitet sei, wie Eden es formulierte, „mit der Sowjetunion so zusammenzuarbeiten wie mit unseren anderen Verbündeten“.

Wir haben schon in einem früheren Aufsatz festgestellt, daß die Abneigung der russischen Politik gegen den Gedanken'eines europäischen Zusammenschlusses aus der Zeit herrührt, da nach den ersten schweren Rückschlägen der deutschen Armeen in Rußland und nach der Moskauer Konferenz der Alliierten von englischer Seite der Plan eines „Westblocks“ lanciert wurde. “ Ein solcher Westblock mußte damals nach der Lage der Dinge in Moskau als ein verlängerter britischer Arm auf dem Kontinent gedeutet werden, der gegebenenfalls die Aufgabe haben würde, dem russischen Einfluß Grenzen zu ziehen. Seither begegnete jeder Vorschlag einer engeren Verbindung europäischer Staaten in Moskau sofort dem Verdacht, es handle sich im Wesen um nichts anderes als um jenes Projekt des „Westblocks“, der eine Spitze gegen Rußland habe. So erscheint es heute als die Aufgabe, diesen nun einmal bestehenden Argwohn zu beseitigen und die Moskauer Kreise für ein solche konstruktive Lösung zu gewinnen, die auch ihre Zustimmung erhalten kann. Es scheint, als ob dem Problem Eden mit seiner Formulierung nahegekommen wäre, wenn man aus ihr als Anschauung herauslesen darf: einmal, daß ein europäischer Zusammenschluß nur auf Grund eines englischrussischen Einvernehmens denkbar sei, und dann, daß Großbritannien einem solchen Verbände genau in dem gleichen Verhältnis wie die Sowjetunion gegenüberstehen würde, das heißt, daß es ihm fernbliebe, wenn Rußland sich ihm fernhielte Wenn nun auch Churchill ähnliches nicht ausdrücklich sagte, so läßt doch jener Teil aus seiner Rede, in der er einen europäischen Staatenverband in den Rahmen der Vereinten Nationen stellte, die Annna'nme zu, daß die beiden Führer der englischen Konservativen bei ihren Vorschlägen nicht die Absicht hatten, auf den Gedanken eines Westblocks unter britischer Patronanz zurückzukommen, sondern an eine, europäische Union denken, deren Unabhängigkeit unter dem Schutz der Vereinten Nationen, also auch unter de: Patronanz Rußlands, zu stehen hätte.

Im übrigen verwendet die russische Presse in letzter Zeit für ihre Ablehnung jedes Planes eines engeren europäischen Zusammenschlusses weniger das Argument, daß eine solche Organisation nur west-mächtlichen Interessen dienen würde, als das Motiv, die Befürworter eines europäischen Staatenverbandes hegten den Wunsch, ihn zu einem Instrument aller reaktionären Kräfte zu machen. Es mag nach Moskauer Auffassung zwischen diesen beiden Begründungen kein allzu tiefer Unterschied bestehen. Wenn man aber darangeht, mit all dem Ernst, den eine so wichtige Angelegenheit erfordert, zu erwägen, wie der russische Argwohn gegen die sogenannte „dritte Lösung“ — nicht Westorientierung und nicht Ostorientierung, sondern Verbindung zwischen West und Ost — überwunden werden kann, so lassen sich wohl unschwer Bedingungen erdenken, die von vornherein für die zu schaffende Union die Möglichkeit einer einseitigen Orientierung ausschließen und damit der verlangten Sicherheit im Sinne Rußlands gerecht werden. Nicht so leicht würden sich dagegen jene Garantien finden lassen, die der Moskauer Regierung genügten, um ihre weltanschaulichen Bedenken gegen einen Zusammenschluß der europäischen Festlandstaaten aufzugeben Vergeblich würde man nach solchen Garantien dann suchen, wenn die Moskauer Regierung grundsätzlich entschlossen sein sollte, jeden europäischen Zusammenschluß, unter welchen Bedingungen auch immer, abzulehnen und zu verhindern Doch Stalin hat die Frage, ob er an die Möglichkeit einer freundschaftlichen und dauernden Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien, trotz der vorhandenen ideologischen Meinungsverschiedenheiten, und an „einen freundschaftlichen Wettbewerb“ zwischen den zwei Systemen glaube, mit einem unbedingten „Ja“ beantwortet. Wer würde es wagen, dieses Ja zu bezweifeln? Es stellt eine Feststellung von großer Bedeutsamkeit dar. Ein europäischer Staatenverband, dessen Unabhängigkeit nach allen Seiten durch ein englisch-russisches Übereinkommen und einen Staatsvertrag zwischen

Großbritannien, der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und dem Verbände selbst sanktioniert wäre, der zudem einen Teil der „Vereinten Nationen“ bilden würde, erscheint damit im Bereiche realer Möglichkeit. Er wäre ein Eckpfeiler des allgemeinen Friedens. So ist die Erklärung des Generalissimus Stalin zu einem Ereignis geworden, das plötzlich den dunklen Schauplatz der Gegenwart erhellt. Vielleicht wird sie ein schicksalwendendes Aktenstück der Nachkriegszeit werden.

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