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Sicherheit Europas führt nicht an Rußland vorbei

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Rußland auf dem Weg nach Europa? Am Dienstag, 24. Mai, will Verteidigungsminister Gratschow der NATO seine Interpretation der „Partnerschaft fiir den Frieden " präsentieren.

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Rußland auf dem Weg nach Europa? Am Dienstag, 24. Mai, will Verteidigungsminister Gratschow der NATO seine Interpretation der „Partnerschaft fiir den Frieden " präsentieren.

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Viele westliche Stimmen warnen: Rußland sei nicht zu trauen. Boris Jelzin und sein Außenminister Anatoli) Kosyrew betrieben eine auf die Wünsche der Militärs und der Rüstungsindustrie abgestimmte Außenpolitik. Das sind Folgen eines enttäuschten Selbstwertgefühls nach dem Zerfall der Sowjetunion. Niemand zittert mehr vor Moskau. Boris Jelzin hat dieses Gefühl seiner Landsleute unlängst auf den Punkt gebracht: Rußland werde Respektlosigkeit nicht hinnehmen, man werde es auch künftig mit „Sie" ansprechen müssen.

Als im Herbst des vergangenen Jahres Rußland seine neue Verteidigungsdoktrin vorlegte, mit einer Definition seines Interessengebietes -praktisch die alte Sowjetunion ~ reagierten die USA verständnisvoll. Wer selbst eine Hinterhofpolitik im mittelamerikanischen Raum und in der Karibik betreibt, karm kaum Ordnungsmachtgedanken nicht gou-tieren. Zudem konnten die vielfachen Beteuerungen, man setze im Westen nach wie vor auf Jelzin und unterstütze dessen demokratisches Reformprogramm, nicht durch eine dem Kalten Krieg entlehnte warnende Rhetorik konterkariert werden.

Mittlerweile, da sich Rußland mächtig umtut, auf dem Balkan eine aufgrund historischer Reminiszenzen in Mitteleuropa negativ besetzte Rolle zu spielen sich anschickt, die nichtsdestoweniger Erfolge zeitigt, die auch der Westen anerkermen muß, ist bei politischen Beobachtern ein Schwenk zum alten Denken unverkennbar. So beklagt zum Beispiel die „Neue Zürcher Zeitung" vom Wochenbeginn, daß der Westen Rußland „zuviel Respekt" entgegenbringe. Gewamt wird vor der „Ruß-land-zuerst"-Haltung, die doch dem demokratischesten Staat des Westens, den USA, mit ihrem „America first" abgeschaut wurde.

SONDERROLLE FÜR RUSSLAND?

Weil Rußland Weltmacht bleiben will, sieht die „Neue Zürcher" eine harte Außenpolitik Moskaus heraufdämmern und bemüht als Zeugen Außenminister Kosyrew, der im Dezember 1992 bei der KSZE-Tagung in Stockholm dem Westen einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hatte. Damals wollte Kosyrew mit einer bewußt gesetzten Verunsicherung vor den Hardlinern warnen, den Westen vollends für die Reformer gewinnen. Heute, so meint der Zürcher Analytiker, betrieben die Reformer selbst eine radikalere, deuthcher akzentuierte interessenbe-stimmte Außenpolitik.

Ist nun nicht Zeit, Rußland in ein europäisches Sicherheitssystem einzubinden? Jelzin und Verteidigungsminister Pawel Gratschow haben ihr Interesse vergangene Woche in Bonn unmißverständlich dargelegt. Deutschland gilt im Westen als einer der Hauptbefürworter einer Heranführung Rußlands an ein europäisches kooperatives Sicherheitssystem. Der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe hat erst Anfang Mai in Washington für eine „strategische Partnerschaft" des Westens mit Rußland geworben. Deutschland geht offenbar davon aus, daß der mögliche russische „Partner für den Frieden" doch eine Sonderrolle erhalten müsse.

Gratschow selbst arbeitet ganz offen auf eine Umgestaltung der NATO hin. Das westliche Verteidigungsbündnis soll unter dem Schirm der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zu einer neuen Sicherheitsstruktur mit Unterordnung des NATO-Rates (des entscheidenden politischen Gremiums der Westallianz) imter die KSZE umgestaltet werden. Der Westen will das (noch) nicht akzeptieren. Dabei wird natürlich übersehen, daß eine wirkliche „Partnerschaft für den Frieden", die man auch für Rußland offenhält, nur bei rechtzeitiger gegenseitiger Konsultation einen Sinn macht. An diesem Dienstag befanden sich der deutsche und der niederländische Außenminister, Klaus Kinkel und Pieter Kojimans, in Wien, um bei den KSZE-Gremien Vorschläge zur Stärkung der KSZE als Institution der europäischen Sicherheitsarchitektur zu präsentieren. Außerdem soll Rußland bald EuroparatsmitgUed werden.

Ohne Rußland geht nichts. Diese Überzeugung hört man in Osteuropa nicht selten. Der Westen ist allerdings noch äußerst unsicher, wie er mit Rußlands neuen Ambitionen umgehen soll. Ein dominierendes Rußland will niemand.

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