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NATO im Schicksalsjahr

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1983 ist ein Schicksalsjahr für die NATO: Kommt es bei den Genfer Verhandlungen über einen Abbau der Mittelstreckenwaffen in Europa zu keinem Ergebnis, soll Ende des Jahres mit der Aufstellung moderner amerikanischer Atomraketen begonnen werden. Mittlerweile steigt die Nervosität in West und Ost.

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1983 ist ein Schicksalsjahr für die NATO: Kommt es bei den Genfer Verhandlungen über einen Abbau der Mittelstreckenwaffen in Europa zu keinem Ergebnis, soll Ende des Jahres mit der Aufstellung moderner amerikanischer Atomraketen begonnen werden. Mittlerweile steigt die Nervosität in West und Ost.

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Nervosität spiegelt sich etwa in jüngsten Aussagen des Bonner Exkanzlers Helmut Schmidt — immerhin jener Politiker und Strategie-Denker, der 1977 in London als erster offiziell auf die Gefahren aufmerksam gemacht hatte, die durch die sowjetische Aufrüstung mit SS-20-Mittel- strecken-Atomraketen für die Westeuropäer erwachsen würden und der zu den Architekten des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979 zählt:

In Interviews mit US-Medien bezweifelte Schmidt die Ernsthaftigkeit des amerikanischen Verhandlungswillens in Genf und forderte die Reagan-Administra- tion zu mehr Engagement in der Abrüstung auf. Nervosität spiegelt “sich aber auch auf sowjetischer Seite in den in letzter Zeit immer öfter wiederholten und immer schärfer werdenden Drohungen mit Gegenmaßnahmen im Falle der Aufstellung von 572 amerikanischen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Europa: Angedroht werden „notwendige Gegenmaßnahmen in bezug auf das Territorium der USA selbst“ (gemeint sein dürfte dabei die Aufstellung sowjetischer Atomwaffen in Kuba, Nikaragua, auf der Halbinsel Kamtschatka oder zusätzlicher U-Bootplattformen vor der amerikanischen Küste).

Am vergangenen Wochenende drohte das Moskauer Parteiorgan „Prawda“ außerdem mit der weiteren Aufstockung ihres Mittelstreckenpotentials sowie mit einer möglichen Stationierung von Mittelstreckenatomwaffen in den Warschauer-Pakt-Staaten. In diesem Klima der Beschuldigungen und Drohungen scheinen die Chancen für eine Übereinkunft in Genf nicht gerade rosig. Ebensowenig Hoffnung besteht demnach auch auf eine Entspannung des Ost-West-Verhältnis- ses, das nun schon seit Jahren vornehmlich im Zeichen der Konfrontation steht und weiter stehen wird, wenn es bei den Genfer INF - Verhandlungen zu keiner Übereinkunft kommen sollte.

Genau diese Furcht vor einer möglicherweise lang anhaltenden Konfrontationsphase im Ost- West-Verhältnis aber ist es, mit der sich viele Westeuropäer nicht abfinden wollen. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch Helmut Schmidts Aufforderung an die Reagan-Regierung zu verstehen, mehr Engagement in Abrüstungsfragen zu zeigen.

Daß die Westdeutschen auf Schwankungen im Ost-West- Verhältnis besonders sensibel reagieren, ist angesichts ihrer geographisch exponierten Lage, den 5000 Atomsprengköpfen in ihrem Land und den zum Teil ja durchaus auch positiven Erfahrungen mit der Entspannungspolitik (Ostverträge, Berliner Viermächteabkommen, Familienzusammenführungen, Osthandel usw.) gut zu verstehen.

Gut zu verstehen ist aber auch andererseits die amerikanische Desillusionierung über die Entspannungspolitik, zumal die USA als globale Macht damit konfrontiert waren, daß Detente für die Sowjets außerhalb der Ersten und Zweiten Welt nicht zählte—Angola, Vietnam/Kambodscha und Afghanistan dazu als Stichworte.

Die Stimmung in den USA Anfang der achtziger Jahre war denn auch so, daß „man einfach nicht mehr länger von den Sowjets an der Nase herumgeführt werden wollte“, so ein politischer Experte der NATO in Brüssel zu österreichischen Besuchern. Die Folge ist bekannt: Ronald Reagans überwältigender Wahlerfolg im November 1980.

Reagan malt seit seinem Amtsantritt ein Drohbild der Sowjetunion an die Wand, dem viele Europäer nicht zustimmen wollen. Sie erschreckt der harsche Ton der Administration in Washington, die aus einer „Politik der Stärke“ heraus die Sowjets politisch und militärisch in die Schranken weisen, sie wirtschaftlich in die Knie zwingen will.

Hohe amerikanische Gesprächspartner in Brüssel, vor kurzem beispielsweise auch der ehemalige US-Spitzendiplomat George Ball bei einem Besuch in Österreich, aber versuchen europäische Befürchtungen bezüglich einer unumstößlich auf Konfrontation mit dem Ostblock eingestellten US-Regierung zu dämpfen: auch die Reagan-Administration bewege sich allmählich in Richtung einer pragmatischeren Politik, lerne die Komplexität der globalen Probleme verstehen, nachdem sie am Anfang vor allem ideologisch an die Bewältigung von Konflikten herangegangen sei. Als Beweis führen sie gerade die Abrüstungspolitik und Rü- stungskontrollthematik an — Bereiche, für die Reagan am Anfang seiner Amtszeit wenig Interesse gezeigt habe, die aber auf Druck von außen wie innen zunehmend an Bedeutung gewonnen hätten.

Auch europäische NATO- Funktionäre sehen „gewisse Ansätze zum Besseren“ in der amerikanischen Politik, erwähnen dabei etwa die Beilegung des Pipeline-Disputs, der im amerikanischeuropäischen Verhältnis eine Klima-Verbesserung gebracht habe. Freilich, andere wirtschaftliche Streitpunkte — die Frage des Technologie-Transfers nach Osteuropa im besonderen, des Ost- West-Handels im allgemeinen - harren nach wie vor einer Lösung.

Dazu kommen noch protektionistische Tendenzen, die den Handel zwischen Westeuropa und den USA belasten, die aber auch grundsätzlich die Zusammenarbeit in der Nordatlantischen Verteidigungsallianz erschweren: Klagen von amerikanischer Seite im Brüssler NATO-Hauptquartier waren unüberhörbar, daß ökonomische Streitfragen zusehends in den Sicherheitsbereich hineinwirkten.

Dennoch bestreitet man im Sitz des Ständigen NATO-Rates und des Generalsekretariats in der Brüsseler Gemeinde Evere, daß in der NATO Unordnung herrsche, ja daß sich die Allianz in einem Prozeß der Auflösung befinde: Gewiß gebe es Probleme in wirtschaftlichen Fragen und zweifellos sei man auch nicht sehr erfolgreich gewesen, die Politik und die Strategie der NATO der breiten Öffentlichkeit des Westens zu erklären. Aber innerhalb der NATO funktioniere die Formulierung und Koordinierung der Politik und Strategie nach wie vor.

Nur besteht halt weiterhin die Gefahr, daß diė NATO an der Öffentlichkeit „vorbeiformuliert“ und „vorbeikoordiniert“. Erst angesichts des Anwachsens der Friedensbewegungen in den NA- TO-Mitgliedsstaaten hat man sich in Brüssel dazu aufgerafft, verstärkt Aufklärungsarbeit über die von der atomaren und konventionellen Hochrüstung des Warschauer Paktes ausgehenden Bedrohung für Westeuropa zu betreiben.

Ob es nicht schon zu spät ist — auch angesichts der geschickten sowjetischen Propaganda, die mit einer Mischung aus Drohungen und Abrüstungsangeboten die westliche Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen versucht? In NATO-Kreisen gibt man sich über die Bedeutung der europäischen Friedensbewegungen eher gelassen, wenn man sie auch nicht unterschätzt. Moskau tue alles, um diese Bewegungen zu ermutigen - insofern müsse es aber auch äußerst entmutigend für die Sowjets sein, daß durch den Druck der Friedensmarschierer bis jetzt keine entscheidende Wirkung auf die westliche Politik ausgegangen sei.

Die Hauptkritik der NATO an der Verhandlungstaktik des Kreml in Genf ist es denn auch, daß seine Vorschläge bezüglich eines Abbaus atomarer Mittelstreckenpotentiale an die westliche Öffentlichkeit gerichtet seien, daß die Sowjets bei den Verhandlungen dann aber nicht weiter auf die eigenen Initiativen eingingen. Hauptzweck dieser Strategie: die amerikanische Nachrüstung zu verhindern, und dabei möglichst viele der eigenen, schon installierten Raketen behalten zu können - das sind mittlerweile 351 SS-20-Raketen, davon 240 für den eurostrategischen Bereich bestimmt, plus rund 300 Raketen der veralteten Typen SS-4 und SS-5.

Hier habe sich KPdSU-Chef Ju- rij Andropows Politik gegenüber der von Leonid Breschnew nicht geändert. Geändert hätten sich allenfalls Stil und Atmosphäre, zumal der jetzige Kreml-Chef klüger als sein Vorgänger sei. Man glaubt im Brüssler NATO- Hauptquartier auch nicht daran, daß in der neuen Kreml-Führung die Militärs in den politischen Entscheidungsprozessen allmählich die Oberhand gewinnen werden. Gewiß, in der Rüstungskontrolle hätten die Generäle ein entscheidendes Wort mitzureden. Aber die Macht liege nach wie vor in den Händen der Partei.

Wenig Aussichten demnach, daß in der sowjetischen Politik allmählich Änderungen eintre- ten. Auf der anderen Seite glauben offensichtlich auch die Sowjets nicht an einen entscheidenden Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik. Sie sind ohne Zweifel schwer enttäuscht über Präsident Reagan, mit dem sie — im Gegensatz zu früheren republikanischen Regierungen — nicht auf einen grünen Zweig kommen konnten — zumindest bis jetzt nicht. Deshalb auch die derzeit vornehmlich auf Westeuropa gerichtete Außenpolitik Moskaus (zu einem geringeren Ausmaß auch auf China und Japan), zumal der Kreml damit spekuliert, die transatlantischen Dissonanzen ausnützen und die westliche Allianz auseinanderdividieren zu können.

Angesichts dieser sowjetischen Taktik zeichnet sich als westliche Gegenstrategie — und das trotz der wirtschaftlichen Differenzen — doch immer deutlicher ein engeres Zusammenrücken der westlichen Allianz ab. Jüngstes Beispiel: der Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg, wo die Führer der sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten sowjetische Drohungen gegen die Aufstellung der modernen US-Mittelstrek- kenraketen mit einem eindeutigen Bekenntnis zur NATO-Nach- rüstung quittierten. Und natürlich ist man auch im Brüsseler NATO-Hauptquartier überzeugt: Nur das klare Festhalten des Bündnisses an seinem Doppelbeschluß kann die Sowjets noch zu einem Einlenken in Genf bringen.

Man darf bei alldem nicht vergessen: Marschflugkörper und Pershing II-Raketen sind nicht nur militärische Waffen, sie haben vor allem auch den Zweck, die USA und ihre europäischen Verbündeten politisch enger aneinanderzukoppeln. So gesehen müßte auch durchaus Platz für einen Kompromiß vorhanden sein: etwa eine Begrenzung des sowjetischen Mittelstreckenpotentials auf der einen Seite bei einer gleichzeitigen Mini-Nachrüstung auf der anderen.

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