Märkte, Macht und MUSKELN

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Am Vorabend des NATO-Gipfels in Warschau steht das Militärbündnis vor vielen Baustellen, Staus und Schlaglöchern. Ein Gastkommentar.

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Am Vorabend des NATO-Gipfels in Warschau steht das Militärbündnis vor vielen Baustellen, Staus und Schlaglöchern. Ein Gastkommentar.

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Die 28 NATO-Mitglieder geben mehr Geld für Militär aus als der Rest der Welt. In der seit Ende der Bipolarität anhaltenden Debatte, ob die NATO ein Beistandspakt oder ein Interventionsbündnis ist, gewannen seit der Ukraine-Krise Abschreckungsstrategien an Konjunktur. Zuvor gaben die militärischen Interventionisten den Ton an. Jedoch werden beide Aufgabenspektren bedient, um das Bündnis zusammenzuhalten. Nicht wenige verlangten nach der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 auch die Auflösung der NATO.

Aktuell führt die NATO Militäreinsätze in Afghanistan, Kosovo, Somalia, im Mittelmeer, um das Horn von Afrika und im Golf von Aden sowie Luftwaffeneinsätze in Südost- und Osteuropa durch. Mit dem Blick auf die Ukraine zauberte die NATO neue schnelle Eingreiftruppen und Stationierungsstrategien aus dem Hut: Der "NATO Response Force" aus dem Jahr 2002 wird nun die "Very High Readiness Joint Task Force" zur Seite gestellt. Abschreckung reloaded. Nicht nur Putin spricht heute offen von einer neuen Form des "Kalten Krieges". Auch Deutschlands Außenminister Steinmeier irritierte seine Verbündeten jüngst, man solle durch "lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage nicht weiter anheizen", wenngleich die Rhetorik Berlins versöhnlicher klingt als das Handeln tatsächlich ist. Überaus selten vermag man den Einsätzen Aspekte eines globalen Gemeinwohls abringen.

USA - weniger atlantisch, mehr pazifisch

In der NATO spielen die USA militärisch wie politisch die erste Geige. Scharrten sich nach 9/11 die europäischen Verbündeten noch hinter den USA, so förderte der Irak-Krieg 2003 Emanzipationswünsche. Beim EU-Militärgipfel 2013 wähnte sich die EU in "vollständiger Komplementarität" mit der NATO. Dass die USA sich heute weniger atlantisch, sondern mehr pazifisch orientieren, wirkt als EU-Loyalitätsmotor. Bei den schnellen Interventionstruppen ziehen EUbattle groups" gegen die "NATO Response Forces" den politisch Kürzeren. Der neokonservative Robert Kagan war schon 2003 der Ansicht, die USA bereiten die Mahlzeit, während die EU den Abwasch macht. Zwei Friedensnobelpreisträger (Barack Obama und die EU) bitten zu Tisch. Als Dessert gibt es die Langzeitforderung nach Erhöhung der europäischen Militärbudgets.

Die Versuche Washingtons, eine eigenständige EU-Sicherheitspolitik zu verhindern, waren zahlreich. Mitzahlen und Mitmarschieren bei US-Interventionen war genauso erwünscht wie der Waffenkauf in US-Rüstungsschmieden. Unerwünscht waren autonome EU-Militäreinsätze oder eine EU-Rüstungsindustrie. Stehen freier Markt und der freie Handel gerne über allen Dingen, so feiert der Protektionismus auf den Rüstungsmärkten der NATO-Staaten fröhliche Urständ. Genauso in der EU. Rüstungsmärkte als Dschingderassa des marktwirtschaftlichen Regelbruchs.

Die USA und das NATO-/EU-Mitglied Großbritannien verbindet eine "special relationship". Der Brexit könnte sich zu einem Bedeutungsgewinn für EU-Militäreinsätze auswachsen. EU-Militäreinsätze wurden seit 2003 schon etwa ein Dutzend durchgeführt, und zeitweilig haben die EU-Staaten gemeinsam mehr konventionelle Waffen verkauft als die USA.

Russland richtete nicht wenige Botschaften an die NATO und zog "rote Linien". Die Osterweiterungen 1999 und 2004 zählen zweifellos dazu. Die NATO-Raketenabwehr, Truppen in Osteuropa oder die Kriege gegen Jugoslawien 1999, gegen den Irak 2003 und der Regimechange in Libyen 2011 schürten den Missmut Moskaus. Neue Erweiterungen (z. B. Georgien, Ukraine) werden heute weder die NATO noch ihr Umfeld sicherer machen. Dies soll aber weder das russische Vorgehen in der Ukraine, im Kaukasus noch die Lage in punkto Menschenund Freiheitsrechte relativieren.

Auf die Forderung nach Mitsprache antwortet man Russland mit Verweis auf den Katzentisch. Es braucht sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen statt Angstmache, Rüstung und Dämonisierung. Anfang der 1990er-Jahre noch funktionierende Vereinbarungen und Institutionen zwischen Ost und West sind heute zugunsten territorialer und politisch-strategischer Gewinne des Westens erodiert. Der Ende 2009 von Präsident Medwedjew vorgeschlagene Vertrag über europäische Sicherheit wurde von den NATO-und EU-Staaten nicht diskutiert. So manches wäre heute von großem politischem Wert.

Beinahe idealistisch war Deutschlands Außenminister Westerwelle, als er 2009 den Abzug von US-Atomwaffen forderte. Im Ergebnis einigte man sich sogar auf deren Modernisierung. Im gleichen Jahr forderte Barack Obama in Prag "Global Zero", also die Abrüstung aller Atomwaffen. Geschehen ist das Gegenteil. Heute steigt die Bedeutung von Atomwaffen an, und alleine die USA geben 355 Milliarden US-Dollar in den nächsten zehn Jahren für Atomwaffen aus. Das Vertragswerk zur Abrüstung bröckelt. Die Nukleardoktrin der NATO, und damit die Stationierung von Atomwaffen in Europa, bekommt gegenwärtig auch Österreich zu spüren. Der von Außenminister Kurz initiierte "Humanitarian Pledge" zur vollständigen Abrüstung genießt die Unterstützung von weltweit 127 Staaten. Unter den EU-Staaten allerdings nur von Zypern, Malta und Irland.

Die Stationierungsdebatte von NATO-Truppen und Kriegsmaterial in Osteuropa spießt sich an der NATO-Russland-Akte. Statt einer "dauerhaften" und der Akte widersprechenden Stationierung entschied man sich für die Spitzfindigkeit einer Rotation. Diese Sprachregelung lässt die NATO militärisch und Russland aus Verärgerung politisch rotieren. Das Agieren der NATO verengt sich dabei mehr als bisher auf das Militärische. Einige Mitglieder wollen verhindern, dass sich alle Aufmerksamkeit nach Osten richtet. Militärkapazitäten der NATO sollten demnach auch rasch im Mittelmeer und im Mittleren Osten sowie Nordafrika einsetzbar sein. Hintergrund ist der Einfluss Russlands auf den Krieg in Syrien und seine Präsenz im Mittelmeer.

Beschränkter Werkzeugkasten

Die Neutralen Schweden und Finnland nähern sich der NATO betreffend Militäreinsätze und Manöver an. Im Gegensatz zu Österreich beteiligen sich Schweden und Finnland an der NATO-Eingreiftruppe. Nicht nur in Flüchtlingsfragen teilt Minister Doskozil die Analysen der NATO. Die Zustimmung zum Militärbündnis ist in der Bevölkerung in allen Neutralen nicht mehrheitsfähig.

Die globalen Probleme wie Klimawandel, Migration, Terror oder Ressourcenknappheit können mit militärischen Muskeln nicht nachhaltig gelöst werden. Die Folgen des Einsatzes des beschränkten Werkzeugkastens eines Militärpaktes können in Afghanistan, Irak oder Libyen analysiert werden. Am Beispiel des Klimawandels kann abgelesen werden, wie klassisch zivile Probleme durch die NATO militarisiert werden, anstatt ursachenorientiert vorzugehen.

Internationale (z. B. OSZE), staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen konnten entwickelt werden, um Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu bearbeiten. Diplomatische und zivile Ansätze zeitigen auch Erfolge, aber brauchen weitere Erforschung, Erprobung und Einsätze. Viel zu viel Geld wird in Militärpakte, Rüstung und das "letzte Mittel" zum Umgang mit Konflikten gesteckt. Nach den vorletzten und vorvorletzten Mitteln - ziviler Krisenprävention und zivilem Krisenmanagement - wird oft erst dann gerufen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.

| Der Autor ist Friedensforscher und Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien; www.thomasroithner.at |

Am Anfang war die Vision vom Frieden

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