Zwischen Abschreckung und Eskalation

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Das Nordatlantische Verteidigungsbündnis beschließt auf seinem Gipfel in Warschau die Truppenstationierung im Osten Europas. Seither wird darüber spekuliert, ob dies die Situation dieser Länder stärkt oder den Konflikt der NATO mit Russland nur noch verschärft.

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Das Nordatlantische Verteidigungsbündnis beschließt auf seinem Gipfel in Warschau die Truppenstationierung im Osten Europas. Seither wird darüber spekuliert, ob dies die Situation dieser Länder stärkt oder den Konflikt der NATO mit Russland nur noch verschärft.

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Für die polnische Regierung war der NATO-Gipfel im eigenen Land international ihr bislang größter Erfolg. In dem weiß-rot gestrichenen Nationalstadion von Warschau, in dem der diesjährige Gipfel stattfand, konnten die Nationalkonservativen als Gastgeber stolz die für Polen und die baltischen Staaten so wichtigen Beschlüsse verkünden: die Stationierung von jeweils einer Brigade, insgesamt rund 4000 NA-TO-Soldaten, die dauerhaft rotierend vor Ort sein sollen. "17 Jahre lang ist Polen in der NATO - nun ist die NATO endlich auch in Polen", so Polens Präsident Andrzej Duda.

Virulente Bedrohung

Ähnliche Positionen vertreten auch die Regierungen der baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen. Denn aus Sicht der Osteuropäer ist eine mögliche russische Bedrohung durch den bis heute aktuellen Ukraine-Konflikt in den letzten Jahren mehr denn je virulent. Die Polen, und noch viel mehr die einst zur Sowjetunion gehörenden Balten-Republiken, sehen ihre staatliche Integrität gefährdet. Sie sind daher zufrieden, dass in jedem der vier Länder ein anderer NATO-Mitgliedstaat die multinationalen Verbände führen wird - in Polen sind es die USA, in Litauen die Deutschen.

Für die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite etwa ist dies auch ein "psychologischer Durchbruch" der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die damit eine innenpolitisch "kontroverse, politisch schwierige" Entscheidung getroffen habe. "Wir wissen, nun, dass im Falle eines konventionellen Krieges Pläne in Gang gesetzt werden, uns zu Hilfe zu kommen, es würde eine ganz andere Interventionsstufe eingeleitet als nur die NATO-Brigaden", sagte Grybauskaite.

Tatsächlich lautet das Kalkül der Osteuropäer ähnlich wie die offizielle NATO-Linie: Nicht die Zahl der im Osten neu stationierten Soldaten ist entscheidend, sondern die Tatsache, dass es sich um multinationale NATO-Truppen handeln wird. "Ein Angriff auf einen Verbündeten wird als Angriff auf die Allianz als Ganzes gesehen", unterstrich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Zur Begründung der "verstärkten Vorne-Präsenz" des Bündnisses hieß es, die Mitgliedsstaaten würden ihre "Bevölkerungen und Territorien schützen, indem wir die Kontinuität der Regierung, die Bereitstellung lebenswichtiger Dienste und die Sicherheit kritischer ziviler Infrastrukturen stärken".

Soweit ist die Abschreckungsdoktrin schlüssig. Die Frage, die etliche Kritiker der NATO-Beschlüsse umtreibt, lautet jedoch: Wie real ist eine militärische Intervention Russlands in den genannten Staaten - mit oder ohne NATO-Truppen vor Ort? Zunächst einmal ist eine wichtige Unterscheidung nötig: Denn jedes der vier genannten Länder hat eine eigene Spezifik. So gibt es etwa an der Weichsel keine nennenswerte politische Fraktion, die mit Wohlwollen nach Moskau schaut oder als "Russland-Versteher" gilt.

Im Gegenteil. Auch gibt es in Polen keine russische Minderheit, die potenzielle, hybrid-verdeckte oder offen agierende Invasoren aus Moskau unterstützen könnte.

Anders sieht die Situation etwa in Estland und Lettland aus. In den beiden direkt an Russland grenzenden Republiken leben bis heute bedeutende russische Minderheiten.

Minderheiten als Vorwand?

Die Sorge ist, dass Russland dort ähnlich wie in der Ostukraine und auf der Krim den Vorwand des Schutzes dieser Menschen nutzen könnte, um gegen die Republiken vorzugehen. Estlands Regierung etwa fürchtet die Minderheit in einem möglichen hybriden Krieg zwar wenig, weil diese etwa wegen ihres wirtschaftlichen ,besseren Status' gegenüber Landsleuten jenseits der Grenze keine illoyale prorussische Kraft bilde.

Ein anderes Szenario aber bereitet den Balten durchaus Kopfzerbrechen: Bei einem konventionellen Angriff Russlands könnten die Hauptstädte beider Länder wie auch Litauens binnen 36 bis 60 Stunden eingenommen werden. Dies zumindest legt General Ben Hodges, Befehlshaber der amerikanischen Bodentruppen in Europa, dar. Laut einer Analyse der Rand Corporation, eines auf militärische Fragen spezialisierten US-Think-Tanks, würden die baltischen Republiken in einem konventionellen Krieg kaum von der NATO zu verteidigen sein.

Tatsächlich ist Russlands militärische Stärke in Grenznähe der Balten-Republiken wie auch Polens groß. Und die neue NATO-Linie im Osten ist für Präsident Wladimir Putin ein weiterer Vorwand, diese abermals zu erhöhen. In der russischen Kaliningrad-Exklave, zwischen Litauen und Polen an der Ostsee gelegen, will Russland womöglich atomwaffenfähige Raketen des Typs Iskander stationieren, die theoretisch Warschau erreichen könnten. Es wäre die Reaktion auf die "absolut verächtliche Haltung" der NATO gegenüber Russland, wie Präsident Wladimir Putin sagte. Gemeint sind nicht nur die Warschauer Stationierungsbeschlüsse, sondern auch die Aufnahme Montenegros in das Bündnis und die Installierung eines Raketenabwehrsystems in Rumänien und Polen.

In seine Westgebiete will Russland nun bis Ende 2016 weitere 30.000 Soldaten verlegen. "Entgegen dem objektiven Interesse der Unterstützung von Frieden und Stabilität in Europa, richtet die NA-TO ihre Kräfte auf das 'Aufhalten' der nicht existierenden ,Bedrohung aus dem Osten' aus", heißt es in einer Erklärung des russischen Außenministeriums zum Warschauer Gipfel. Auch Michail Gorbatschow kritisierte das Bündnis. "Von einem Kalten Krieg geht die NATO zu den Vorbereitungen für einen heißen (Krieg) über", sagte der Friedensnobelpreisträger und letzte sowjetische Staatschef.

Im internationalen Fokus

Ob die Dialogbereitschaft, die die NATO gegenüber Russland parallel zur ihrer Abschreckungspolitik betonte, bei den für Mittwoch dieser Woche geplanten NATO-Russland-Treffen in Brüssel dauerhaft zur Deeskalation beitragen wird, ist unklar. Unabhängig von der Frage, ob die Osteuropäer nun im Falle des Kriegsfalles von anderen NATO-Staaten besser verteidigt würden: Nach den Warschauer Beschlüssen sind sie stärker als zuvor im internationalen Fokus - und potenziell auch jenem militärischer Zielvisiere. In einer von welcher Seite auch immer militärisch angeheizten Lage gibt es ohnehin einen Gewinner mit Sicherheit: die Rüstungsindustrie. Bereits 2015 sind die weltweiten Rüstungsausgaben erstmals seit vier Jahren wieder gestiegen, vor allem in Asien, Zentral- und Osteuropa, so das Stockholmer Friedens-Forschungsinstitut Sipri.

So kündigt Litauens Präsidentin Grybauskaite eine Aufstockung der Ausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für 2018 an. Polen hatte das Zwei-Prozent-Ziel - von der NATO 2014 als Zielwert ausgegeben - bereits 2015 beschlossen. Verteidigungsminister Antoni Macierewicz ist auch diese Marke, die bislang nur fünf der 28 NATO-Staaten erreichen oder übertreffen, nicht genug. "Zu einer effektiven, eigenständigen Verteidigung des polnischen Territoriums sind mindestens drei Prozent des BIP notwendig, und dies werden wir anstreben", sagte er kurz nach dem Gipfel.

Auch wenn die Mittel durchaus anderweitig gebraucht werden: Je heißer die Atmosphäre der Angst, desto geringer der Widerstand gegen solche Pläne.

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